Die Geschichte eines Sommers
Herz bereits an das Tier verloren.
»Wir haben es nirgendwoher«, sagte Oma Calla. »Das Pferd ist uns zugelaufen und wird auch nicht lange hierbleiben. Sobald wir wissen, wem es gehört, werden wir es zurückgeben.« Bei den letzten Worten verzog sie verbittert den Mund.
»Den Leuten, die ihm das angetan haben?«, rief Swan empört.
»Eigentum ist Eigentum«, sagte Sheriff Meeks. »Und im Gesetz steht nichts darüber, was man mit dem tun darf, was einem gehört.«
Ein Fakt, der Swan sprachlos machte – aber nur für eine Sekunde. Dann begann sie wild mit den Augen zu blinzeln und streckte die Arme aus, als würde man sie kreuzigen wollen.
»Ja, aber wenn Sie deshalb nichts unternehmen wollen«, brüllte sie aus vollem Hals, »warum sind Sie denn dann hier, zum Teufel?« Sie hatte ganz vergessen, dass man vor Erwachsenen nicht fluchen durfte, außer vor Onkel Toy.
Sheriff Meeks sah sie durchdringend an in der Erwartung, sie würde beschämt den Kopf senken. Er kannte Swan eben nicht.
»Ich bin hier, weil dein Onkel mich gerufen hat«, sagte er schließlich. »Glauben Sie, dass dieses Kind irgendwann mal seine große Klappe verliert?«, fügte er dann an Calla gewandt hinzu.
Early blieb nicht lange. Er war um acht mit Bud Jenkins in der Stadt im Café verabredet, und es war fast schon sieben Uhr. Wenn man bedachte, dass er dorthin beinah eine halbe Stunde brauchte, blieb ihm nicht mehr allzu viel Zeit, um zu früh zu sein. Bevor er sich auf den Weg machte, notierte er sich jedoch noch eine Beschreibung von dem Pferd und versprach herumzuerzählen, dass das Tier gefunden worden war. Tauchte der Besitzer auf, dann sollte Toy sich auf jeden Fall seine Besitzurkunde zeigen lassen.
Mittlerweile waren auch Noble und Bienville aus dem Haus gekommen und streichelten das Pferd mit klebrigen Sirupfingern. Snowman schien es nichts auszumachen. Da die Kinder natürlich nicht wussten, dass er Snowman hieß, stritten sie sich stattdessen gerade darüber, wie sie ihn nennen sollten. Oma Calla beendete den Streit, indem sie ihnen erklärte, dass sie das Pferd sowieso nicht behalten würden, und falls doch , dann würde es ihr Pferd sein, denn schließlich hätte das Vieh auch ihren Garten verwüstet. Außerdem würde niemand, der nicht brav war und nicht im Haushalt half, jemals auf dem Pferd reiten. Und schlussendlich würde das Tier, solange es bei ihnen war, John heißen.
»John?« , schrie Bienville auf.
»Wer hat denn jemals von einem Pferd namens John gehört?«, beschwerte sich Noble lautstark.
Doch Oma Calla fand nicht, sie sei ihnen eine Erklärung schuldig. Sie konnte ihr Pferd nennen, wie sie wollte, nur Willadee gestand sie unter vier Augen, dass sie sich in letzter Zeit einige Male ertappt hatte, wie sie den Namen ihres Mannes laut aussprach, wenn niemand in der Nähe war. Falls sie jetzt jemand dabei erwischte, könnte sie immerhin so tun, als hätte sie laut über das Pferd nachgedacht.
Blade hatte furchtbare Angst davor, was sein Daddy tun würde, wenn er herausfand, was er getan hatte. Und er würde es ganz bestimmt herausfinden. Das wusste Blade so sicher, wie er wusste, dass seine Arme und Beine voller blutiger Kratzer waren von dem dichten Brombeergestrüpp und den Dornensträuchern, in denen er sich andauernd verfangen hatte.
Ungefähr zur gleichen Zeit, als Toy Moses zurückkam, nachdem er Bootsie Phillips nach Hause gefahren hatte, kroch Blade wieder durch das Fenster in sein Schlafzimmer zurück, ohne zu bemerken, dass er auf der Fensterbank blutige Flecken hinterließ. Im Haus war es dunkel und still. Bis auf das Daumenlutschen von Blue war kein Geräusch zu hören. Blade hasste es, mit seinem kleinen Bruder in einem Bett zu schlafen, hauptsächlich weil Blue immer irgendwann in den frühen Morgenstunden undicht wurde, aber auch wegen des nuckelnden Geräusches.
Blade schlüpfte ins Bett und legte sich so weit wie möglich von seinem Bruder und von der Pfütze entfernt hin, die sich auf der Gummimatte gesammelt hatte, die zwar die Matratze schützte, aber nicht die beiden Jungen, die auf ihr schliefen. Der Urin war kalt, roch eklig und drang in Blades Schlafsachen, sodass ihm diese feucht an der Haut klebten. Doch das war nicht der Grund, weshalb er zitterte.
Als Ras Ballenger am nächsten Morgen um Punkt halb sechs zur Scheune ging, um sein Vieh zu füttern, musste er feststellen, dass das Pferd von Odell Pritchett nicht mehr da war. Beim Anblick des offen stehenden Tores lief ihm ein
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