Die Geschichte von Liebe und Sex
unglücklich machen kann, wie sich Liebende gegenseitig oder in sich selbst täuschen können und welche Rolle Weisheit, Humor und pure Sinnlichkeit spielen. Ausdrücklich richtet er sich zuerst an Frauen als Leserinnen.
Seine Geschichtensammlung, die zwischen 1348 – 1353 erscheint, nennt er Das Dekameron (italienisch: Il Decamerone , vom Griechischen: deka – zehn und hemera – Tag, sinngemäß: Das Zehntagebuch). Der Titel kommt von der Rahmengeschichte: An zehn Tagen erzählen jeweils zehn junge Leute – sieben Frauen und drei Männer – einander Liebesgeschichten. Unter diesem Titel wird das Buch weltberühmt und trotz vielfacher Verbote immer wieder neu aufgelegt, übersetzt, heimlich abgeschrieben und weitergereicht. Es hat viele spätere Autoren inspiriert, darunter William Shakespeare (1564 – 1616) und Gotthold Ephraim Lessing (1729 – 1781), die |112| aus seinem Schatz von Volksweisheiten und Legenden schöpfen konnten. Als eigenes Vorbild nennt er den Dichter Dante Alighieri (1265 – 1321), der unter dem Titel Das neue Leben selbst ein weltberühmtes Liebestagebuch verfasst hat und wegen Kritik am Papst 1302 aus Boccaccios Heimatstadt Florenz ausgewiesen wurde.
Als erste Teile des Dekameron 1348 erscheinen, herrscht in Italien eine schreckliche Epidemie – die als Schwarzer Tod bezeichnete Pest, an der zwischen 1347 – 52 rund ein Drittel aller Europäer, wahrscheinlich mehr als 25 Millionen Menschen, sterben. In seiner Einleitung zum Dekameron beschreibt er die furchtbaren Szenen, die sich überall im Land abspielen – von Kranken, die aus Angst vor Ansteckung abgeschoben werden und vor Schmerz und Hunger schreien, von stinkenden Leichenbergen in den Straßen und von der allgemeinen Panik der Menschen, die sich entweder angstvoll in ihre Häuser einschließen oder auf Festen im Rausch von Alkohol und Lust die Wirklichkeit zu verdrängen suchen. Er schließt nicht aus, dass die Pest von Gott »wegen unseres schlechten Wandels« geschickt wurde, aber macht dafür nicht Liebe und Sex an sich verantwortlich, sondern eher die Kirchenmänner, die die Liebe verhöhnen und sich heimlich an Abhängigen vergehen.
Giovanni Boccaccio selbst wird in Paris als unehelicher Sohn einer Geliebten seines Vaters geboren und darf erst nach dem Tod der Mutter zu seinem Vater nach Florenz. Mit 19 Jahren beginnt er ein Jurastudium in Neapel. Zwei Jahre später verliebt er sich hier in die Ehefrau eines Edelmannes, die er später in seinen Gedichten verherrlichen wird. Die Angebetete ist die Tochter des Königs von Neapel – Donna Maria. Fast zehn Jahre lang ist er ihr Geliebter. Zwischendurch geht er eine Zeit lang nach Florenz und begegnet hier den ersten Pestkranken. Als er 1344 nach Neapel zurückkehrt, ist Donna Maria unerwartet gestorben – am Schwarzen Tod, der keinen Unterschied zwischen Arm und Reich kennt. Es scheint, als habe er den Verlust der Geliebten niemals überwunden. Obwohl er später als Dichter und Gesandter Karriere macht, findet er niemals mehr Glück in der Liebe, und er verdammt seine Werke, auch das Dekameron , als »Verirrungen«. 1375 stirbt er einsam und verarmt im Alter von 62 Jahren.
Hatte Giovanni Boccaccio noch nicht ausgeschlossen, dass Gott die Pest als »Strafe für die Sünden der Menschen« gesandt hatte, war bei einem |113| anderen Italiener, der gut 400 Jahre später lebte und wie Boccaccio die Fantasien über Liebe und Sex des europäischen Publikums in Bewegung brachte, bereits deutlich der aufklärerische Geist der Französischen Revolution (1789) zu spüren. Giacomo Casanova (1725 – 1798), der später oft allein als leichtsinniger Frauenheld dargestellt wurde, ging es zeitlebens auch um ehrliche Selbsterkenntnis – durchaus im Sinne seines Zeitgenossen, des deutschen Philosophen Immanuel Kant (1724 – 1804), der Aufklärung als den »Ausgang des Menschen aus seiner selbst verschuldeten Unmündigkeit« beschrieb.
Giacomo Casanova, 72 Jahre, schreibt im Jahr 1797: *
»Der Mensch ist frei; doch ist er es nicht, wenn er nicht auch daran glaubt. Denn je mehr Macht er dem Schicksal beimisst, umso mehr beraubt er sich der Macht, die Gott ihm verliehen hat, als er ihn mit Vernunft begabte … ›Nec quicquam sapit qui sibi non sapit – wer sich nicht selbst kennt, weiß gar nichts.‹
Den Freuden meiner Sinne galt mein Leben lang mein Hauptstreben; etwas Wichtigeres gab es für mich niemals. Da ich mich für das andere Geschlecht geboren fühlte, habe ich es stets
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