Die Geschichte von Liebe und Sex
eine Vorlesungsreihe zur Sexualität. Studenten können anonym Fragen auf Zetteln schreiben und in seinem Büro abgeben, die er in seiner Vorlesung in ungewöhnlich offener Form beantwortet. Seine Vorlesungen sind bald überfüllt. Wenig später gelingt es ihm, von der Rockefeller-Stiftung Geld zur Erforschung des menschlichen Sexualverhaltens zu bekommen. Mit einem Team interviewt er zuerst 5300 weiße US-Amerikaner aller Schichten und veröffentlicht 1948 Das sexuelle Verhalten des Mannes . Das Buch wird innerhalb kürzester Zeit zum Bestseller und in viele Sprachen übersetzt. In nüchternen Statistiken belegt Kinsey, dass über 90 Prozent aller männlichen Jugendlichen sich selbst befriedigen, dass rund 50 Prozent aller verheirateten Männer Sex außerhalb der Ehe haben und fast 40 Prozent aller Männer mindestens einmal in ihrem Leben Sex mit einem anderen Mann haben. Umfragen ergeben, dass über Dreiviertel aller Amerikaner es gut finden, »diese Fakten zu kennen«.
Als er jedoch auf der Basis einer Befragung von knapp 6 000 Frauen 1953 den Folgeband über Das sexuelle Verhalten der Frau publiziert, in dem er auch die Bedeutung des Orgasmus für Frauen belegt, kommt es zum Skandal. Der Grund: Er rüttelt am Tabu der »tugendhaften Frau«, die keine sexuelle Lust empfinden darf. Über Nacht wendet sich die öffentliche Stimmung gegen ihn, vor allem konservative Christen setzen ihn unter Druck. Die Rockefeller-Stiftung streicht sämtliche Forschungsgelder. Er wird angefeindet als »Befürworter sexueller Perversionen« (Abartigkeiten) und »Verführer der Jugend«. Trotzdem arbeitet er, |139| unterstützt von seiner Frau, unermüdlich weiter bis zu seinem Tod mit 62 Jahren. Das nach ihm benannte Kinsey-Institut an der Indiana-Universität gibt es bis heute.
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Ihr Geburtsjahr wird in der Fachliteratur unterschiedlich angegeben. Die Information 1879 stammt von ihrem Enkel Alexander Sanger (* 1947), der heute Vorsitzender der International Planned Parenthood Association in den USA ist.
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Nach verschiedenen Quellen, zuletzt: Bill Condon: Kinsey , München 2005 (Original: Kinsey, public and private , New York 2004), Begleitbuch zum Film Kinsey , USA 2005.
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Einsam in der Spaßgesellschaft: Die Folgen von »No Sex!«
Es gibt noch einmal einen kurzen Frühling: Ab Mitte der 1960er- bis in die 1970er-Jahre gehen, auch als Folge der Arbeiten von Alfred Kinsey und anderen, von den USA wichtige Impulse zur sogenannten sexuellen Revolution aus: Was zunächst als Protest gegen den Krieg der USA in Vietnam (1964 – 1973) beginnt, weitet sich zu einer Jugendbewegung unter dem Motto Make Love – not War! auch nach Westeuropa aus, wo sie auf politisierte Studentenproteste trifft (siehe Kapitel »Liebe statt Krieg«).
Doch schon unter Präsident Ronald Reagans (1911 – 2004) konservativer Regierung (1981 – 89) werden Zugeständnisse nach mehr Vielfalt, die die neuen sozialen Bewegungen der Schwarzen, der Frauen, aber auch der Lesben und Schwulen errungen haben, wieder zurückgedreht. Nach einer Atempause unter Präsident Bill Clinton (* 1946), von 1993 bis 2001, wird seit 2001 mit Präsident George Bush (* 1946) erneut der Trend der fundamentalistischen Christen fortgesetzt. An den Schulen werden Jugendliche schlicht zur Enthaltsamkeit ( abstinence only ) aufgefordert: »Kein Sex vor der Ehe!« So als könne man Jugendliche in einer durchsexualisierten »Spaßgesellschaft« vor von Bierfirmen landesweit gesponserten Fun Foam Partys (Seifenschaum-Feten, bei denen die Gäste höchstens Badehose oder Bikini tragen) oder der TV-Serie Sex in the City durch die Anordnung »Augen zu!« bewahren.
Aber damit nicht genug. Die konservativen Interessenvertreter fordern, dass an Schulen nicht über Verhütungsmittel gesprochen werden darf, ganz zu schweigen von Geschlechtskrankheiten, Abtreibung oder AIDS. Auch wenn die Realität in den USA ganz anders aussieht: Ungefähr eine Million Mädchen unter 18 Jahren werden jedes Jahr schwanger, davon 78 Prozent ungewollt. Die USA weisen heute von allen westlichen |140| Ländern die höchsten Raten jugendlicher Schwangerschaften und Abtreibungen auf. *
Demgegenüber haben es Beratungsstellen wie die von Margaret Sanger gegründete Planned Parenthood Federation schwer, für eine umfassende Sexualerziehung zu werben, die Jugendliche ermutigt, verantwortliche Entscheidungen selbst zu treffen und miteinander abzuwägen, ob sie sich für sexuelle Enthaltsamkeit oder
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