Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Die Geschichte von Zeb: Roman (German Edition)

Die Geschichte von Zeb: Roman (German Edition)

Titel: Die Geschichte von Zeb: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Margaret Atwood
Vom Netzwerk:
Belohnung ausgesetzt worden war. Es war sogar möglich, dass einige seiner biometrischen Daten im Umlauf waren, Fotos seiner Ohren, animierte Silhouetten seines Gangs, Daumenabdrücke aus der Schulzeit. Soweit er wusste, war Wynette nicht mit irgendeiner Gang verbandelt, und zum Glück war sie zu arm, um einen PC oder ein Tablet zu besitzen. Aber in den Internetcafés kostete es fast gar nichts, online zu gehen, und wenn er sie zu sehr verärgerte, könnte sie imstande sein, eine Runde durchs Netz zu surfen und seine wahre Identität ausfindig zu machen.
    Gerade begann sie aus dem Sex-Koma zu erwachen, in das sie durch den Zauber seines gonadalen Überschwangs geraten war, Erstkontakt mit Aliens und Welpen auf Speed waren nichts dagegen. In sexuellen Dingen haben junge Kerle keinen Geschmack – sie sind nicht wählerisch. Sie sind wie die Pinguine, die die Viktorianer damals so entsetzten, sie vögeln alles, was ein Loch hat, und in Zebs Fall war Wynette die Nutznießerin. Nicht um anzugeben, aber bei ihren nächtlichen Begegnungen rollten sich ihre Augen so weit nach hinten, dass sie die Hälfte der Zeit wie eine Untote aussah, und die verstärkten Rockmusiklaute, die sie dabei ausstieß, hatten sowohl die Leute aus dem Schnapsladen im Erdgeschoss als auch den Haufen bejammernswerter Lohnsklaven im Stockwerk drüber zu lautem Hämmern gegen die Wand animiert.
    Aber jetzt verwechselte sie Zebs animalische Energie mit etwas Tieferem. Sie wollte auf einmal reden nach dem Sex. Es verlangte sie auf einmal zusätzlich nach geistigem Austausch. Sie begann Fragen zu stellen, zum Beispiel, ob ihr Busen groß genug sei, ob ihr dieses Limettengrün stünde und warum sie nicht mehr zweimal pro Nacht vögelten wie am Anfang? Fangfragen, auf die es ausschließlich falsche Antworten gab. Diese nächtlichen Verhöre gingen ihm langsam auf die Nerven. Vielleicht, schloss Zeb, hatten seine Gefühle für Wynette ja doch nichts mit wahrer Liebe zu tun.
    »Jetzt guck nicht so. Ich war da noch total jung. Und vergiss nicht, ich bin falsch sozialisiert worden«, sagt Zeb.
    »Wie guck ich denn?«, fragt Toby. »Es ist stockdunkel. Du kannst mich überhaupt nicht sehen.«
    »Ich spüre die Gletscherkälte deines steinernen Blickes.«
    »Sie tut mir nur leid, das ist alles«, sagt Toby.
    »Gar nicht wahr. Wär ich bei ihr geblieben, wär ich heute nicht bei dir, oder?«
    »Gut. Da ist was dran. Ich nehm’s zurück mit dem Mitleid. Aber trotzdem.«
    Er war kein komplettes Arschloch. Er hinterließ Wynette etwas Bargeld und einen Zettel, auf dem er sie seiner unsterblichen Ergebenheit versicherte, dazu ein PS, dass man ihn infolge eines schmutzigen Deals – auf den er nicht näher einging – bedroht habe und ihm der Gedanke unerträglich sei, sie in Bedrängnis zu bringen.
    »Das hast du gesagt?«, fragt Toby. »In Bedrängnis?«
    »Sie war romantisch veranlagt«, sagt Zeb. »Ritter und dieses ganze Zeug. Sie hatte ein paar alte Taschenbücher; die waren schon in dem Zimmer, als sie es mietete. Total zerfleddert.«
    »Und du wolltest nicht ihren Ritter spielen?«
    »Für sie nicht«, sagt Zeb. »Für dich allerdings«, er küsst ihre Fingerspitzen, »ist mein Schwert allzeit gezückt.«
    »Und das soll ich glauben?«, sagt Toby. »Gerade noch hast du mir erzählt, was du für ein Lügner bist!«
    »Zumindest mache ich mir die Mühe, für dich zu lügen«, sagt Zeb. »Lügen ist viel anstrengender als die nackte Wahrheit. Denk’s dir als Teil des Balzrituals. Ich werde alt, ich hab Abnutzungserscheinungen, ich hab keinen riesigen blauen Schwengel wie unsere Crakerfreunde da draußen, also bin ich auf meinen Verstand angewiesen. Oder das, was noch davon übrig ist.«
    Auf der Giga-GliederZug-Route reiste Zeb hastig nach Süden und blieb in den Überresten von Santa Monica hängen. Der steigende Meeresspiegel hatte die Strände weggefressen und die einst exklusiven Hotels und Eigentumswohnungen waren halb überflutet. Viele Straßen waren zu Kanälen geworden, und das nahegelegene Venice machte seinem Namen alle Ehre. Die Gegend als Ganzes wurde die Schwimmende Welt genannt und meist schwamm sie tatsächlich, vor allem wenn der Mond eine Springflut brachte.
    Keiner der ursprünglichen Bewohner lebte noch dort. Da sie keine Versicherung kassieren konnten – denn was war der sich stetig ausdehnende Ozean anderes als höhere Gewalt? –, hatten sie sich in die Hanglagen geflüchtet. Hausbesetzer und Reisende aller Art waren eingezogen,

Weitere Kostenlose Bücher