Die Geschichte von Zoe und Will
gedauert hat, bis ich erkenne, wovor wir eigentlich davonlaufen. Der Ausweis, die Art, wie Will immerzu in den Rückspiegel schaut, kleine Blicke, von denen er nicht ahnt, dass sie mir auffallen. Ich habe sie gesehen und nichts kapiert. Aber jetzt verstehe ich.
Das, wovor wir weglaufen, ist riesig.
Egal wie müde wir sind, wir dürfen nicht langsamer werden. Ich fühle mich wie erstarrt. All das Nachdenken lässt den Wunsch in mir aufkommen, dass ich wegrennen will, aber wir rennen doch schon weg. Wir tauschen ein Gähnen aus, besorgte Blicke und ein Tätscheln der Hände, um die Zeit zu vertreiben. Will überprüft die Tankanzeige und klopft aufs Lenkrad.
»Was?«
»Wir haben noch knapp einen halben Tank. Das reicht bis Vegas und dann noch ein paar Tage in der Stadt.«
Ich denke an Will, wie er mit der Strickmütze aus dem Laden in Elko vor mir stand, und würde am liebsten weinen, weil er seitdem nicht mehr gelächelt hat.
Ich stelle ihn mir in Handschellen vor und frage mich, ob er jemals wieder lächeln wird.
Die Landschaft verändert sich allmählich unter dem Funkeln von Neonlichtern. Die Straße wird breiter, und der Verkehr nimmt zu, während wir in ein Tal fahren. Ich setze mich auf und wische mir mit der Rückseite meines Hemdes über das Gesicht. Ich fühle mich schmutzig, und ich bekomme eine Gänsehaut. Ein Teil von mir ist aufgeregt, endlich Vegas zu sehen, die knallbunten Casinos und Unmengen an Menschen. Doch ein anderer Teil fürchtet sich, dorthin zu fahren. Eine größere Einwohnerzahl bedeutet mehr Polizei. Wahrscheinlich ein FBI-Büro oder etwas in der Art. Und ich habe es in Filmen gesehen, wie sie die Highways absperren, wenn ein Verbrecher auf der Flucht ist.
Sie werden mir Will wegnehmen und mich nach Hause schicken.
Schweiß benetzt meine Oberlippe, und ich wische ihn mit einem nervösen Zittern weg. Autos fliegen an uns vorbei, Sattelschlepper nehmen die gesamte rechte Fahrspur ein. Bei einer solchen Geschwindigkeit kann es noch keine Absperrungen geben.
Will starrt geradeaus. Ich packe seine Hand und drücke sie.
Er zuckt zusammen, als hätte ich ihn erschreckt. »Ich liebe dich«, sagt er. Mechanisch, als wären seine Gedanken so weit weg davon, mich zu lieben, wie nur irgend möglich.
»Wo werden wir halten?«
Er fährt sich mit der Handinnenfläche über die Augenbrauen und sieht mich an.
»Keine Ahnung.«
Ich liebe ihn so sehr. Wie ist es möglich, dass ich nicht längst erkannt habe, dass Liebe über die Zeit wächst, über gemeinsame Erfahrungen?
»Wie lange können wir noch mit dem Benzin fahren, das wir haben?«
»Vielleicht drei oder vier Stunden?«
Was soll ich ohne ihn tun? Sie werden nie verstehen, was geschehen ist. Sie werden ihn mir wegnehmen.
»Fahr weiter, Will.«
»Hä?«
»Fahr einfach weiter. Nach Kalifornien. Nach Mexiko. Wohin auch immer. Wohin du willst. Sie wissen, wohin wir fahren. Wir haben hier kein Geld, keine Familie, nichts. Fahr einfach weiter, bis wir einen Ort finden, an dem wir sicher sind.«
»Wir können nicht ewig fahren.«
»Doch, das können wir. Du hast gesagt, dass wir das können. Das hast du gesagt. Fahr einfach weiter. Wir finden schon eine Lösung. Wir brauchen nur ein bisschen Geld, um über die Runden zu kommen. Wir finden eine Kleinstadt. Ich lenke den Kassierer ab, und du …«
Ich kann den Satz nicht beenden. Das Ausmaß meines Plans wirbelt in meinem Kopf herum wie ein schlechter Fernsehfilm, aber ich kann die Worte nicht laut sagen. Denk es, tu es. Aber darüber zu reden, macht es real, realer als die Handlung selbst.
»Ich kann das nicht zulassen.«
»Wir haben kein Geld, kein Benzin, und sie wissen, wer wir sind. Du hast keine andere Wahl.«
»Doch, die habe ich. Ich kann dich aus diesem Mist raushalten.«
»Verstehst du das nicht? Es ist wie die Sache mit dem Geld, die du mir zu erklären versucht hast. Alles gehört uns beiden. Es gibt nicht deinen Mist und meinen Mist. Das ist unser Mist. Alles, was wir tun, tun wir gemeinsam.« Ich schlucke die Angst hinunter, zähflüssig wie Teer. »Ich werde nicht abhauen, und ich werde nicht zulassen, dass jemand dich mir wegnimmt. Ich gehe nirgendwohin, und das wirst du auch nicht. Wir stecken da gemeinsam drin. In jedem Fehler. In jedem einzelnen Unfall.«
Meine Worte sind zum Schluss etwas unartikuliert, meine Hände greifen nach seinen. Ich suche nach dem kleinsten Zucken in seinem Gesicht, versuche verzweifelt, in seiner Miene zu lesen, will wissen, ob er mich
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