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Die geschützten Männer

Die geschützten Männer

Titel: Die geschützten Männer Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: R Merle
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war: seine unbeschreibliche, hypertrophierte, pathologische Eitelkeit. Ich habe Mrs.
     Pierce bei ihrem Vorgehen beobachtet: es ist ein einmaliges Schauspiel. Sie trippelt auf ihren Reiherbeinen zu ihm hin, nähert
     sich ihm mit entzücktem Gesichtsausdruck, und sobald sie nahe genug heran ist, überschüttet sie ihn mit Komplimenten. Das
     geht ihm runter wie Öl, und wenn es noch so plump ist. Ich nehme sie zur Seite und sage: »Joan, überziehen Sie nicht, Sie
     teilen die Komplimente ja mit der Schöpfkelle aus.« Sie lacht ihr kurzes scharfes Lachen, das dem Schrei einer Möwe ähnelt.
     »Nein, Ralph! Nicht mit der Schöpfkelle, sondern mit der Maurerkelle! Für Mr. Barrow immer die Maurerkelle!«
    |101| Als ich Mittwoch abend an den Fenstern der Baracke vorbeigehe, in der die Pierces wohnen, klopft jemand von innen an die Scheibe.
     Ich hebe den Kopf und sehe nichts, aber da ich die Gewohnheiten von Joan Pierce kenne, gehe ich hinein.
    Sie ist allein und steht vor dem Fenster. Sie legt einen Finger an den Mund und bedeutet mir mit einer Geste, mich zu setzen,
     was ich auch tue. Sie hält das Fernglas an die Augen, und ich frage mich, was sie wohl sehen mag, da der Vorhang zugezogen
     ist, bis ich im Stoff zwei kleine runde Öffnungen erkenne, die nicht vollständig ausgeschnitten sind und die es ihr gestatten,
     zu sehen, ohne gesehen zu werden. Ich nehme an, sie befestigt die beiden Flicken durch ein Stück Klebestreifen, wenn sie nicht
     in Aktion ist.
    Ich warte gute fünf Minuten, langweile mich aber nicht. Ich liebe Joan Pierce, wie man eine Frau nur lieben kann – ohne sie
     zu begehren. Denn in dieser Hinsicht bin ich beruhigt, da existiert sie nicht für mich. Sie besitzt keinerlei Charme, keine
     Figur, keine Sinnlichkeit, nicht einmal Sex. Ihren Körper also ausgeklammert, bringe ich ihr eine starke Zuneigung entgegen
     und genieße auch die Zuneigung, die sie mir entgegenbringt, und die Art, wie sie auf mich eingeht. Mir gefällt vor allem,
     daß sie jedesmal, wenn sie mich ruft, etwas Neues zu berichten hat. Bei diesem Einsiedlerdasein in Blueville, wo nichts geschieht
     – immer nur Arbeit für das Heute und Angst um die Zukunft –, ist eine Neuigkeit unbezahlbar.
    Ich warte, und sie läßt mich warten wie eine große Künstlerin, die ihres Publikums sicher ist und sich die Glanzleistung für
     den richtigen Moment aufspart.
    Dann ist es soweit. Ich bin reif. Und sie hat es geschafft. Sie setzt das Fernglas ab, legt erneut den Finger an den Mund,
     geht in eine Ecke des Zimmers, kniet nieder und macht sich an der Scheuerleiste zu schaffen; ich kann nichts erkennen, weil
     sie mir den Rücken zukehrt. Als sie endlich fertig ist, sieht sie einem munteren Sperber ähnlich und stößt mehrmals ihren
     schrillen Lachschrei aus. Sie setzt sich mir gegenüber in einen Schaukelstuhl und beginnt aufgeräumt zu wippen, wovor ich
     immer Angst habe, denn wenn ich sie länger ansehe, wird mir übel.
    »Ralph, Sie können ungehindert sprechen! Ich habe meine Abhöranlage ausgeschaltet. Da am Sonnabend Anita zu Ihnen kommt, sollten
     Sie ihre Abhöranlage ebenfalls ausfindig machen, |102| vor allem in Ihrem Zimmer. Wozu soll sich Mr. Barrow an euern Spielen weiden!«
    Jetzt lacht sie wieder wie eine schreiende Möwe und schaukelt heftig mit dem Stuhl. Ich schlage die Augen nieder und lächle
     verlegen.
    »Hören Sie auf!« schreit sie lachend. »Hören Sie auf, solche jungfräuliche Miene zu machen!«
    »Hören Sie lieber auf zu schaukeln, ich ertrage das nicht.«
    »Oh, Verzeihung, Ralph, ich hatte es vergessen!«
    Sie hört auf. Ich sehe sie an.
    »Und woher wissen Sie, daß Anita kommt?«
    »Montag, als Sie ihren Brief bekamen.«
    »Haben Sie die Schrift auf dem Umschlag erkannt?«
    »Aber nein. Sie vergessen, daß Sie Ihre Post im Labor bekommen. Ich habe gesehen, was für ein Gesicht Sie beim Mittagessen
     machten.«
    Ein wenig pikiert sage ich: »Ich wußte nicht, daß man mir alles so vom Gesicht ablesen kann.«
    »Man kann es nicht, beruhigen Sie sich, Ralph. Ich bin eine Ausnahme, weil ich den Zusammenhang kenne.«
    »Welchen Zusammenhang?«
    Sie lacht.
    »Muß ich das unbedingt erläutern? Also gut, sagen wir … wachsende Begierde nach der Nähe einer Frau (sehr gut gesagt!) und
     Befürchtungen wegen Ihrer künftigen Beziehungen zu Anita.«
    »Und was hat sich in diesem Zusammenhang verändert?«
    »Seit Montag ist die Begierde fieberhaft (Lachen), und Sie haben Phasen der Hoffnung und der

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