Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Die Geschwister Oppermann - Wartesaal-Trilogie: [2]

Die Geschwister Oppermann - Wartesaal-Trilogie: [2]

Titel: Die Geschwister Oppermann - Wartesaal-Trilogie: [2] Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Lion Feucht Wanger
Vom Netzwerk:
diese Zeit war Gustav in seinem Schlafwagen schon ein gutes Stück südwestlich von Berlin. Er hatte fest und tief geschlafen; jetzt, durch einen scharfen Ruck des Zuges, erwachte er. Langsam entnebelte sich sein Sinn, und plötzlichfiel ihm peinlich ein: er hat zwar an Jean gedacht, aber woran er nicht gedacht hat, das ist sein Neffe Berthold. Zum wenigsten hätte er Martin fragen müssen, was denn nun eigentlich aus dieser albernen Geschichte um Hermann den Cherusker geworden sei. Beinahe eine halbe Stunde quälte ihn dieses Versäumnis. Erst dann schlief er wieder ein, und den Rest der Nacht schlief er nicht so gut wie zuvor.

Drittes Buch
Morgen

Es ist uns aufgetragen, am Werke zu arbeiten, aber es ist uns nicht gegeben, es zu vollenden.
    Talmud

Erst als Berthold schon begraben war, erhielt Gustav die Nachricht von seinem Tod. Mühlheim, der einzige, der seine Adresse wußte, hatte die Mitteilung verzögert, damit Gustav sich nicht durch seine Rückkehr gefährde.
    Er war diese letzten Tage in der schönen, behaglichen Stadt Bern herumgegangen. Es war Frühling, die Luft war leicht, unendlich zart und rein standen die mächtigen Gipfel des Oberlands am Horizont. Aber Gustav hatte keine Freude an dem Anblick, sein Kopf war benommen von den Berliner Geschehnissen. Als er die Nachricht bekam, war ihm, als erhalte er einen Schlag, den er längst erwartet hatte.
    Er ertrug keinen Menschen mehr um sich, er fuhr hinauf ins Gebirge, er mußte allein sein, er verstand das alles nicht, er mußte sich klarwerden. Der Ort, in den es ihn verschlug, lag am Fuß der Jungfraugipfel, aber es gab keinen Schnee mehr, er war der einzige Gast in seinem kleinen Hotel. Er vermied die bevölkerte Bergbahn, schleppte seine Skier selber bis zur Schneegrenze. Erstieg einen Hang abseits, mit Mühe. Da lag er, in Schnee und Sonne, die Linien der Berge in der unermeßlich klaren Luft schwangen sich hoch und klar. Er war allein.
    Er bohrt in sich herum. An den alten Jean hat er gedacht, an Berthold nicht. Er trägt ein gut Teil Schuld an dem, was sich ereignet hat. Von jeher hat er alles falsch gemacht. Ein nutzloses, bequemes, geschmäcklerisches Leben hat er geführt. Ist zu Sybil gegangen statt zu Anna. Hätte er sich mit Politik befaßt, mit Nationalökonomie, mit irgend etwas im Geschäft, alles wäre sinnvoller gewesen als das, was er getrieben hat. Er hat festgestellt, daß Lessing einen bestimmtenBrief am 23. Dezember geschrieben hat, nicht am 21. Nu wenn schon. Das wäre die richtige Unterschrift unter sein ganzes Leben.
    Er hockt im Schnee, dampft vor Hitze, hält Abrechnung mit sich selber. Was herauskommt, sieht nicht gut aus.
    Vier Tage lebt er so in der Stille seines Bergortes. Die schmale Straße, auf der er Tag für Tag seine Schneeschuhe hinaufschleppt, zieht sich hoch überm Tal entlang, winzig liegen Dörfer auf den Hängen gegenüber, mächtig in ihrer besonnten Weiße breiten sich vor ihm die Gipfel der Jungfrau. Er hockt oben auf seiner abseitigen Höhe. Reine, frische Wärme ist in der Luft, gedämpft kommt das Getöse der Lawinen zu ihm. Er sieht, was vor ihm liegt, um ihn, aber er wird sich der Luft, des Anblicks nicht bewußt; sein Sinn ist zu. In ihm bohren immer die gleichen Gedanken, drehen sich, bohren sich immer tiefer in ihn hinein. Am besten ist es, den Körper so anzustrengen, daß man nicht mehr denken kann. Manchmal, auf dem Rückweg, ist er soweit. Dann sitzt er wohl am Straßenrand, in willkommener Erschöpfung, entrückt, wackelt mit dem Kopf, mechanisch, lacht idiotisch. Manchmal bleibt die Straße stundenlang leer. Einmal kommt ein Junge vorbei mit einem Karren. Schaut ihn verwundert an, dreht noch lange den Kopf nach ihm.
    Vier Tage liegt solche Dumpfheit über ihm, lähmend, sein Kopf ist wie in Watte gepackt. Am Morgen des fünften Tages, plötzlich, nach einer langen, durchschlafenen Nacht, reißt der Nebel, der um ihn war. Gustav reckt sich. Stößt vollends durch die Dämmerung. Er hat wahrhaftig fünf Tage lang keine Nachricht aus Deutschland gelesen, keine Zeitung; es wird jetzt wenig Deutsche so ohne Neugier geben. Er holt sich, was er an Zeitungen bekommen kann, deutsche, Schweizer, englische, französische. Geht, den dicken Pack unterm Arm, die gewohnte schöne Straße hinauf. Es ist plötzlich eine wilde Spannung in ihm, er kann sie kaum zähmen. Trotzdem der Boden noch feucht ist, setzt er sich an den Straßenrand, beginnt zu lesen.
    Er liest, und all sein Blut drängt zum Hirn. Ruhig

Weitere Kostenlose Bücher