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Die Geschwister Oppermann - Wartesaal-Trilogie: [2]

Die Geschwister Oppermann - Wartesaal-Trilogie: [2]

Titel: Die Geschwister Oppermann - Wartesaal-Trilogie: [2] Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Lion Feucht Wanger
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und der Landsknechte, berichtete er weiter, ist das bis ins kleinste ausgearbeitete System, die Durchorganisierung, die militärisch-bürokratische Ordnung, nach der die Mißhandlungen und Tötungen vor sich gehen. Alles wird registriert, unterschrieben, protokolliert. Nach jeder Mißhandlung hat der Mißhandelte schriftlich zu bestätigen, daß er nicht mißhandelt worden sei. Bei Tötungen attestiert der Arzt, der Getötete sei am Herzschlag gestorben. Die Leiche wird den Angehörigen in einem plombierten Sarg ausgehändigt, dessen Öffnung bei schwerster Strafe verboten ist. Für diejenigen, die nach ihrer Mißhandlung entlassen werden, liegen frische Anzüge und frische Wäsche bereit, damit nicht die blutbefleckte Kleidung zu sehr auffalle; die Mißhandelten müssen sich schriftlich verpflichten, die frischen Sachen binnen vierundzwanzig Stunden in gereinigtem Zustand zurückzubringen. Auch muß für die Behandlung und Verpflegung in den Unterkünften der Völkischen bezahlt werden, nicht viel übrigens, eine Mark pro Tag für Unterkunft, eine Mark für Verpflegung und Behandlung. Für Verpflegung und Behandlung der Getöteten, das heißt der am Herzschlag Gestorbenen oder auf der Flucht Erschossenen, haben die Hinterbliebenen zu zahlen. Die Behandlung erstreckt sich auch aufs Seelische und entbehrt nicht einesgewissen Humors. Es werden beispielsweise den Gefangenen während der Behandlung auf dem Grammophon völkische Lieder vorgespielt; sie müssen mitsingen, der Takt wird ihnen durch Stahlruten und Gummiknüppel beigebracht.
    Die Völkischen scheinen ihr System groß ausbauen zu wollen. Sie richten riesige Konzentrationslager ein, um den Häftlingen dort »die für den Geist der neuen Zeit erforderlichen Eigenschaften anzuerziehen«. Sie wenden bei dieser Erziehung auch psychologische Methoden an. Sie führen zum Beispiel die Häftlinge in großen, lächerlichen Prozessionen durch die Straßen und zwingen sie, groteske Sprechchöre zu exekutieren: »Wir sind marxistische Schweinehunde, wir sind jüdische Gauner«, und dergleichen. Oder sie zwingen einzelne, sich auf Kisten zu stellen, Kniebeugen zu machen und nach jeder Kniebeuge auszurufen: »Ich Judenschwein habe mein Vaterland verraten, ich habe arische Mädchen geschändet, ich habe öffentliche Kassen bestohlen«, und dergleichen. Gelegentlich auch haben Gefangene Bäume erklettern müssen, Pappeln zum Beispiel, um von oben stundenlang solche Selbstcharakteristiken zu verkünden.
    Im übrigen haben die Gefangenen in den Kellern der Landsknechtskasernen wie in den Konzentrationslagern Gelegenheit, sich in sehr kurzer Zeit mit dem nationalsozialistischen Parteiprogramm und mit dem Buch des Führers vertraut zu machen. Der Unterricht ist streng. Bei Fehlern und Nachlässigkeiten drohen rauhe Strafen, das Zeitalter des Liberalismus und der Humanitätsduselei ist vorbei. Manche, wie gesagt, überstehen den Unterricht nicht. In Berlin allein weiß er von siebzehn dokumentarisch beglaubigten Todesfällen.
    Von diesen Dingen also berichtete Dr. Klaus Frischlin dem Dr. Gustav Oppermann in der kleinen Weinstube in der schweizerischen Bundeshauptstadt Bern. Er sprach mit leiser, gleichmäßiger Stimme, denn am Nebentisch saßen Leute; ab und zu, um sich die Kehle anzufeuchten, trank er von dem leichten, spritzigen Wein, wobei seine Hände auffallend langund dünn aus den Ärmeln herauskamen. Gustav aß wenig an diesem Abend, sprach auch wenig. Es gab nicht viel zu fragen. Klaus Frischlin erzählte genau; unpräzis war sein Deutsch nur, wenn er Sätze des Führers zitierte, die die Mißhandelten auswendig zu lernen hatten.
    Nachdem Frischlin zu Ende war, saßen die beiden Männer noch lange stumm zusammen. Langsam trank Frischlin seinen Wein aus, schenkte sich umständlich neu ein. Nur mehr drei Tische in dem Raum waren besetzt. Gustav hatte die schweren Lider halb über die Augen gezogen, es sah aus, als döste er.
    »Noch eines, Frischlin«, raffte er sich schließlich auf. »Sie haben mir noch nichts über das Ende meines Neffen Berthold erzählt.«
    »Ihr Neffe Berthold? Das Ende?« fragte Frischlin. Es stellte sich heraus, daß er von der ganzen Angelegenheit nichts wußte.
    »Wie ist das möglich?« empörte sich Gustav. Aber Frischlin war nicht weiter verwundert. Sie verhindern jetzt in Deutschland, daß einer über seinen Nächsten etwas erfährt, was der Regierung nicht angenehm war. Die Zeitungen haben die Meldungen offenbar unterdrücken müssen. Wer sich

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