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Die Geschwister Oppermann - Wartesaal-Trilogie: [2]

Die Geschwister Oppermann - Wartesaal-Trilogie: [2]

Titel: Die Geschwister Oppermann - Wartesaal-Trilogie: [2] Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Lion Feucht Wanger
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hat. Es waren viele Bekannte im Zug, aber viele übersahen einander, man wollte sich nicht sehen. »Komm möglichst bald nach, Mühlheim«, bat Gustav. »Mach möglichst wenig Dummheiten unterwegs, Oppermann«, sagte Mühlheim. Dann fuhr der Zug an. Das letzte, was Gustav von Berlin sah, war Schlüter, der in guter Haltung dastand, mit seinem verschlossenen, eigensinnigen Gesicht dem Zuge nachschauend.
    Berthold, um die gleiche Zeit, wünschte seinen Eltern gute Nacht. Morgen, Mittwoch, soll er seinen Fall bereinigen, soll er seine Erklärung abgeben, in der Aula, vor den versammelten Lehrern und Schülern des Königin-Luise-Gymnasiums. Liselotte wollte noch mit ihm sprechen, sie tat schon den Mund auf. Aber sie kannte seine schwierige Art, so ließ sie es sein und sagte nur: »Gute Nacht, mein Junge.«
    Berthold ging auf sein Zimmer, zog sich aus, sehr sorgfältig, hängte seine Kleider ordentlich auf, legte, wie er es gewohnt war, seine Schulsachen für den andern Tag zurecht. Seine Rolle morgen wird eigentlich sehr einfach sein. Seine Erklärung ist sehr kurz. François und Vogelsang haben es nicht so einfach. Die werden mächtig quatschen müssen. Er hat während der ganzen Zeit nur dazustehen. Am Pranger zu stehen. Wenn es nach Dr. Vogelsang ginge, dann fände der – wie sagt man am besten? –, der Akt am Niederwalddenkmal statt.
    Er wird sich jetzt ins Bett legen. Ein Buch wird er sich noch mitnehmen. Kleists »Hermannsschlacht« zum Beispiel.Aber er geriet an den vierten Band seines Kleists statt an den dritten, an die »Erzählungen«. Und er las die Erzählung von Michael Kohlhaas, Sohn eines Schulmeisters, einem der rechtschaffensten Menschen zugleich und entsetzlichsten seiner Zeit, den das Rechtsgefühl, in dem er ausschweift, zum Räuber und Mörder macht, so daß er um zweier Pferde willen sich selber aufgibt, einen Aufruhr entfacht und schließlich auf grauenvolle Weise umkommt. Aber die beiden schönen Rappen, die man ihm zu Unrecht zu Schindmähren gemacht hat, sieht er glatt und dickgefüttert wieder als sein Eigentum, wie er das Schafott besteigt. Berthold kannte die Erzählung gut, trotzdem las er sie mit neuer, scharfer Spannung. Mehreres las er zwei- bis dreimal. So die Antwort, die der Pferdehändler seiner Frau gibt, als diese ihn verstört fragt, warum er denn seinen Besitz verkaufe. »Weil ich in einem Lande«, erwidert er, »in welchem man mich in meinen Rechten nicht schützen will, nicht bleiben mag. Lieber ein Hund sein, wenn ich von Füßen getreten werden soll, als ein Mensch.« Berthold las und nickte mehrmals schwer, zustimmend mit dem Kopf.
    Er legte das Buch beiseite. Nun spürte er doch, daß er die Nacht vorher nicht geschlafen hatte und daß anstrengende Tage hinter ihm lagen. Dunkel wollte er es noch nicht haben, er hatte Scheu vor der Dunkelheit. Er schaltete die Deckenbeleuchtung aus, die abgeschattete Bettlampe ein, legte sich auf die Seite, schloß halb die Augen. Er sah den Phantasievogel der Tapete auf seiner hängenden Ranke, und wieder aus dem Ornament heraus erschien ihm das Gesicht Hermanns, breite Stirn, flache Nase, langer Mund, das Kinn kurz und stark. Ob der wohl Aussicht hätte, im heutigen Deutschland hochzukommen? Er lächelte. Unerwartet formten sich ihm Verse: »Wer heut in Deutschland vorwärts will, / was muß so ein Junge haben? / Eine eiserne Fresse, eine niedrige Stirn …« Es war sehr selten, daß ihm Verse kamen. Er hat Sinn für Stil, für anständige Prosa, Dr. Heinzius hat es immer gesagt. Aber es ist wohl nicht die Zeit für Verse.
    Ruth und jener Hermann hätten sich wahrscheinlich gut vertragen. Wieder sieht er sie als eine der Germaninnen in der Wagenburg. Sie würde empört aufbegehren gegen eine solche Vorstellung. Aber richtig ist sie doch.
    Ruth hat es leicht. Sie an seiner Stelle wüßte genau, was zu tun ist. Viele in Deutschland haben es leicht, viele Millionen. Aber viele auch, noch mehr Millionen, haben es schwer, gerade weil sie wissen, was zu tun ist. Er hat die Geschichte gehört von dem Bruder, oder war es der Schwager?, des Dieners Schlüter, der gegen die Völkischen ausgesagt hat und darum erschlagen wurde. Millionen bekennen sich gegen die Völkischen, Tausende lassen sich totschlagen für dieses ihr Bekenntnis. Von einigen weiß man es, von Tausenden; aber von Hunderttausenden, von Millionen weiß man es nicht. Wer ist Deutschland? Die in den braunen Uniformen, die herumlümmeln, schreiend, mit ihren Waffen in der Hand, die

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