Die Geschwister Oppermann - Wartesaal-Trilogie: [2]
bleiben, nicht durchgehen, sein Herz festhalten, ruhig denken. In Tagen wie diesen tauchen von allen Seiten unkontrollierbare Gerüchte auf. Er hat sich sein ganzes Leben hindurch mit Quellenkritik befaßt, er will jetzt nicht auf die Phantasien einiger rasender Reporter hereinfallen. Was sind das für Zeitungen? Da sind die »Times«, die »Frankfurter Zeitung«, die »Neue Züricher Zeitung«, der »Temps«. Und es sind keine beliebigen Reporter, die berichten, es sind Leute von Namen. Die Berichte lauten knapp, sachlich. Korrespondenten von solchen Namen können es nicht wagen, so Ungeheuerliches mit so detaillierten Angaben in die Welt zu setzen, ohne die Unterlagen zu besitzen. Es ist keine Frage, die Völkischen haben ihr Programm, dessen primitive Barbarei man so oft belächelt hat, er selber am ungläubigsten, Punkt für Punkt ausgeführt. Sie haben alle diejenigen, die ihnen mißliebig sind, verhaftet, verschleppt, mißhandelt, erschlagen, ihren Besitz zerstört oder weggenommen, einfach mit der Begründung, daß diese Menschen ihre Gegner und somit zu vernichten seien. Gustav liest Namen, Daten. Viele von den Namen sind ihm bekannt, mit vielen dieser Menschen war er vertraut.
Seine stille, tierische Verzweiflung ist fort. Eine helle Wut fällt ihn an über sich selber, über die Völkischen. Er liest die irren Reden der Führer. Der alte Reichspräsident hat ihnen das Reich in Ordnung übergeben, sie haben zynisch ihre feierlichen Versicherungen gebrochen, das Gesetz zertreten, aus Ordnung und Zivilisation Willkür, Unordnung, Brutalität gemacht. Deutschland ist ein Tollhaus geworden, in dem die Kranken sich ihrer Wärter bemächtigt haben. Erkennt das die Welt? Was tut sie?
Noch am gleichen Tag fährt er zurück nach Bern. War er selber wahnsinnig, daß er sich in dieses kleine Nest verkrochen hat, ohne seine Adresse zu hinterlassen? Glaubt er, das Grauen gehe ihn weniger an, wenn er sich den Kopf in Watte packt? Er will wissen, muß wissen, mehr, alles, genau.
In Bern findet er Telegramme, Briefe, Zeitungen. Auch in sein Haus sind Landsknechte eingedrungen, haben es durchsucht, manches zerstört, vieles verschleppt. Ein Telegramm Frischlins ist da, Gustav möge ihn anrufen. Er tut es.
Es ist ihm eine Sensation, Frischlins Stimme zu hören. Es ist die wohlbekannte Stimme, aber dennoch verändert, gespannt, geladen, energisch. Gustav will fragen, aber Frischlin unterbricht ihn sogleich; das hat er früher nie gewagt. Er erklärt, er habe vom Lessing viel in Ordnung gebracht, aber er halte es für am besten, er komme nach Bern und erstatte persönlich Bericht. Das sei übrigens auch Mühlheims Meinung.
Schon den Tag darauf war er da. »Ich möchte mich in einem andern Hotel einquartieren als Sie«, sagte er, kaum aus dem Zug gestiegen. »Es ist gescheiter, wenn unsere Namen nicht vom gleichen Hotel gemeldet werden. Ich schlage Ihnen vor, daß ich Sie dann zu einem Spaziergang abhole. Ich kann Ihnen besser berichten, wenn ich die Sicherheit habe, nicht belauscht zu werden.« Er sagte das bescheiden, doch mit Entschiedenheit. Erstaunt sah Gustav, wie dieser Mann sich verändert hatte. In Berlin, mit seinen langen, dünnen Beinen, seinen langen, dünnen Händen, die aus immer zu kurzen Ärmeln herauskamen, mit seinem scheuen, ungelenken Wesen hatte er auf Gustav immer gewirkt wie ein Student, bei dem es innerlich und äußerlich nicht ausgereicht hat. Jetzt, bei aller Schlichtheit, gab er sich straff, einer, der genau wußte, was er wollte.
Sie fuhren dann hinauf auf den Gurten. Es war ein strahlender Vorfrühlingstag, die weiße Linie der Gipfel lag überaus zart und klar vor ihnen. Es war noch zu kalt, längere Zeit auf dem Aussichtsplateau zu sitzen. Sie gingen auf der bewaldeten Höhe, Gustav zügelte seinen schnellen, steifen Schritt, und Klaus Frischlin berichtete.
Die Landsknechte waren in einer der ersten Nächte in der Max-Reger-Straße erschienen, gegen Morgen. Sie kamen zu acht. Das Manuskript, die wichtigste Lessing-Literatur, auch die gesamte Kartothek hatte Frischlin glücklicherweise denTag zuvor bei unverdächtigen Personen untergestellt. Sie verschleppten und zerfetzten alles, was an Akten noch vorhanden war. Von den Büchern haben sie vieles verschont; bei andern jedenfalls haben sie schlimmere Verheerungen angerichtet. Sie waren sehr willkürlich bei der Auswahl der Bücher, die sie zerrissen oder mitnahmen. Gereizt haben sie vor allem die vielen Ausgaben von Dantes »Göttlicher
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