Die Geschwister Oppermann - Wartesaal-Trilogie: [2]
sie gegen das Gesetz behalten haben, oder die andern, die Millionen, die so doof waren, an das Gesetz zu glauben, ihre Waffen auslieferten, und denen man jetzt die Köpfe einschlägt, wenn sie den Mund auftun? Nein, er steht nicht allein, er hat Kameraden, Hunderttausende, Millionen. Man hat dem Unbekannten Soldaten ein Denkmal gesetzt, aber von dem Unbekannten Deutschen, seinem Unbekannten Kameraden, spricht kein Mensch. Mein Unbekannter Kamerad, denkt er und: Sie machen alle Jagd auf dich, / Sie schlagen dich, sie sperrn dich ein, und: Ich weiß, du bist Tausend, du bist Million, und: Es kommt der Tag, / Mein Unbekannter Kamerad, / Und wenn der Tag kommt, bist du da. Das ist alles nichts. Er kann keine Verse schreiben. Es müßte aber einmal einer kommen und ein Lied schreiben auf den Unbekannten Deutschen, auf den Unbekannten Kameraden.
Vielleicht schreibt es einer, aber man wird es nicht drucken, man wird es nicht singen, man wird es nicht hören. Und selbst wenn er, Berthold, das Lied schreiben könnte, er würde dieses Lied nicht aufsagen. Er wird anderes aufsagen. Er wird hingehen in die Aula, vor die versammelten, grinsendenKameraden, die bekannten Kameraden, und wird sagen: »Ich habe eine Wahrheit gesagt. Ich erkläre diese Wahrheit für falsch.«
Nein, er wird es nicht sagen.
Er wird es natürlich sagen. Er hat auch den Brief an François nicht schreiben wollen, er hat ihn nicht geschrieben, er hat die Zeit verstreichen lassen. Dann hat sein Vater gesagt: »Du könntest einen Expreßbrief schreiben«, und dann hat er geschrieben.
Er kann morgen von der Schule fortbleiben, einfach nicht kommen. Da stehen sie in der Aula und warten, und er ist nicht da. Er lächelt. Er stellt sich das genau vor, die Gesichter Vogelsangs und Werner Ritterstegs und des Pedells Mellenthin am Türeingang. »Wir singen das Horst-Wessel-Lied«, wird Dr. Vogelsang schließlich sagen, aber das wird ein schwacher Trost sein; um das Horst-Wessel-Lied zu singen, hätte man nicht die ganze Anstalt in der Aula versammeln müssen. Rektor François wird sich vielleicht sogar freuen, wenn er nicht kommt, Heinrich wird sich bestimmt freuen, trotzdem er ihm zugeraten hat, zu kommen, auch Kurt Baumann wird sich freuen. Ja, das wäre schon eine Genugtuung, eine Herzenslabung, eine Stunde lang, einen Tag lang, vielleicht eine Woche. Aber dann, was soll er dann tun? Er wird relegiert, aus Deutschland muß er fort, es kann ewig dauern, bis er, vielleicht, nach Deutschland zurück kann, und wird es dann noch sein Deutschland sein?
Es bleibt nichts anderes übrig. Es wäre schön, sie warten zu lassen, aber es geht nicht.
Es geht doch.
Er steht auf. Er sucht das Manuskript jenes Hermann-Vortrages hervor. Er hat es gut aufgehoben, er muß die Hauptlampe einschalten, um es herauszukramen, es dauert einige Zeit. Es ist ein sehr sauber geschriebenes Manuskript, liniiertes Papier, mit Rand, wenig Verbesserungen. Er nimmt einen Zettel, schreibt darauf. »Es ist nichts zu erklären, nichts hinzuzufügen, nichts wegzunehmen. Dein Ja sei Ja, dein Neinsei Nein. Berthold Oppermann.« Er legt die Feder hin, dann nimmt er sie wieder und setzt hinzu: »Berlin, den 1. März 1933.«
Eigentlich möchte er doch die Verse aufschreiben, die ihm vorhin angeflogen sind: »Dir, Unbekannter Kamerad.« Nein, Prosa ist besser. Und er schreibt: »Lieber ein Hund sein, wenn ich von Füßen getreten werden soll, als ein Mensch. (Kleist, Inselausgabe, 4. Band, Seite 30.)«
Er geht in das andre Zimmer, nicht übermäßig leise, öffnet die Hausapotheke. Es sind drei Röhrchen mit Schlafmitteln. Er nimmt das, was er für das stärkste hält. Es ist noch kaum angebrochen, sicher genügt es. Da werden sie morgen in der Aula warten müssen.
Er holt sich ein Glas Wasser, stellt es sorgfältig auf einen Teller, damit es auf dem Tisch keinen Rand lasse, löst die Tabletten in dem Wasser auf, stellt sich das Glas auf den Nachttisch. Sieht nach dem Manuskript. Der Zettel liegt lose darauf, es ist besser, ihn anzuheften. Er zieht seine Uhr auf, legt sie neben das Glas. Schaltet wieder die Hauptlampe aus, die Bettlampe ein, legt sich zu Bett.
Es ist ein Uhr achtunddreißig. Er trinkt das Wasser mit den aufgelösten Tabletten. Gut schmeckt das Zeugs nicht, es kostet einige Überwindung, es hinunterzuschlucken. Aber es gibt Schlimmeres.
Er liegt und wartet. Vom Nachttisch her tickt seine Uhr. Er hört unten ein Auto hupen, verboten laut und lang. Wie lange es dauern wird, bis er
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