Die Geschwister Oppermann - Wartesaal-Trilogie: [2]
einschläft? Er liegt jetzt zwei Minuten und vierzig Sekunden. Länger als sechs oder acht Minuten wird es bestimmt nicht dauern. Wenn man ihn nicht im Lauf der nächsten halben Stunde findet, kann man ihn sicher nicht mehr aufwecken. Es ist glücklicherweise sehr unwahrscheinlich, daß noch jemand zu ihm hereinkommt. Wenn er die Bettlampe ausschaltet, dann ist es ausgeschlossen. Er schaltet sie aus. Schon spürt er sich schwer und müde, nicht so angenehm müde freilich, wie er gehofft hat, sondern bleiern, drückend.
Schon wieder ein Auto. Aber diesmal hupt es nicht so lange. Er hat das Manuskript anständig vorbereitet. Dr. Heinzius hat ihnen erklärt, einer der wesentlichsten Unterschiede des Altertums von unserer Epoche sei die Einschätzung des Selbstmords. Die Römer haben ihren Jungens schon im frühesten Alter beigebracht, der Mensch sei selbst den Göttern dadurch überlegen, daß ihm der Ausweg des freiwilligen Todes bleibe. Die Götter haben diese Freiheit nicht. Es ist ein sehr würdiger Tod. Er hat auch alles ordentlich zurechtgelegt, bevor er das Zeug schluckte. Da liegt das Manuskript, wer will, kann sehen, und wer nicht will, muß sehen. Vor ein paar Tagen hat er von einer Frau gelesen, die hat, bevor sie wegging, nicht nur das Kleid angezogen, in dem sie begraben sein wollte, sondern auch an den Ärmel ihres Mannes einen Trauerflor genäht. Wir Deutsche sind ordentliche Leute. Er lächelt ein klein wenig. Er darf es sich erlauben, jetzt darf er, zu sagen: »Wir Deutsche.«
Schon wieder ein Auto. Er sitzt nun auf einmal selber in dem Auto. Es ist auf der Avus, es ist ein Autorennen, Franzke sitzt im Fond, es ist komisch, daß er nicht neben ihm sitzt, Franzke brüllt ihm immerfort Weisungen zu, aber er kann sie nicht hören, er gibt sich die größte Mühe, aber es ist ein schrecklicher Lärm, der Wind ist so stark, und wer sitzt denn eigentlich neben Franzke? Da sitzt doch einer. Es ist der Dr. Heinzius, das ist gut, der kann sich ihm besser verständlich machen als Franzke. Jetzt kommt die Kurve, ausgezeichnet ist er die Kurve gefahren, knorke. Das hat er sich doch abgewöhnt, knorke zu sagen, es ist ein scheußliches Wort. Das Auto vor ihm, wer ist da am Steuer? Das ist ja Dr. Vogelsang. Dem wird er jetzt in die Seite fahren, das wird knorke. Ob Franzke versteht, was er vorhat? Aber es geht nicht, komischerweise, er kann ihn einfach nicht anfahren. Vollgas, immer Vollgas, nicht langsamer werden, aber es geht nicht, es kommt so heiß und drückend von unten herauf, auch der Gashebel ist ganz heiß, und jetzt schleudert der Wagen, der Gashebel drückt ihn ja am Bauch, der Wagen schleudert nicht,er schwimmt, es ist wie damals in Bayern auf der vereisten Straße, auf einmal gleitet einem der Wagen weg, man weiß nicht wie, es kommt schwarz herauf, es drückt scheußlich, man muß schreien, ob man will oder nicht, aber man kann gar nicht schreien, es hebt einen, es hebt den Wagen, aber es ist gar nicht der Wagen, der gleitet einem unter den Füßen weg, man ist auf der Berg- und Talbahn, im Lunapark, es ist die Schiffsschaukel, wieso denn, es ist in München, auf dem Oktoberfest, das geht furchtbar hoch, Vogelsang ist noch immer neben ihm, aber jetzt hat er ihn überholt, und er ist doch auf der Avus, nur ist er ohne Wagen, und jetzt schwimmt er, trotzdem er ohne Wagen ist, wie hoch die Schaukel geht, wie es einen im Bauch kitzelt, ganz tief innen, es zieht einem den Bauch weg, das darf man nicht verraten, man muß mit dem ganzen Gesicht lachen, es ist ja ein wirkliches Schiff, jetzt schwimmt es einem schon wieder weg, die Wellen sind gleichmäßig und ganz flach, und sie erdrücken einen, das ist kein Spaß mehr, sie drücken furchtbar, er hätte nicht bei Nacht schwimmen sollen, sie schlagen immer wieder über einem zusammen und heben einen nicht, da kriegt man nie wieder Luft, alles gleitet einem weg, und da ist noch das Gesicht Vogelsangs, aber es ist nicht mehr das Gesicht Vogelsangs, es ist das Hermanns, mit der flachen Nase und dem starken Kinn, und so steht er auf einmal auf dem Sockel des Niederwalddenkmals, aber da steht doch die Germania, und das ist gut, und jetzt steht doch Hermann da, und jetzt gleitet der Sockel des Denkmals fort. Und jetzt kommt eine ganze große Welle, die ist ganz groß, und da muß er unten durch. Mein Unbekannter Kamerad, kann dir die Hand nicht geben, jetzt kommt die Welle, sie ist noch größer, jetzt kommt sie, ob sie einen doch hebt, jetzt ist sie da.
Um
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