Die Geschwister Oppermann - Wartesaal-Trilogie: [2]
Altmodische Ministerialräte wandten ein, eine solche Verfügung werde zur Folge haben, daß Kranke in einzelnen Fällen von Ärzten betreut werden könnten, die zwar national, aber nicht wissenschaftlich zuverlässig seien. Vogelsangs vaterländischer Eifer schlug diese Bedenken mühelos aus dem Felde.
Die Verordnung erlassen, erschien er wiederum bei François. Es galt noch ein Zweites zu erledigen, seine persönliche Auseinandersetzung mit dem Rektor. Auch diesen Gang wird er nicht minder siegreich bestehen wie den ersten. Solange er in Tilsit war, hat er sich einen Triumph nur so vorstellen können, daß man stählern vor dem Besiegten steht, ihm den Fuß auf den Nacken setzend. In Berlin hat er eine andere Art des Triumphes kennengelernt, eine leisere, elegantere. Diesen Triumph auszukosten, sitzt er jetzt in dem großen Rektoratszimmer, mehr weltmännisch als stramm, ein Bein übergeschlagen, die Arme verschränkt, den unsichtbaren Säbel abgelegt. Ein geradezu verbindliches Lächeln nistet unter seinem weizenblonden Schnurrbärtchen, und sein Kragen ist wahrhaftig wieder zwei Millimeter niedriger. »Es liegt mir daran, Herr Rektor«, beginnt er, die quäkende Stimme so heiter wie möglich, »bevor ich diese Anstalt verlasse, noch einen Punktzu klären. Wir konnten uns seinerzeit nicht einigen, ob das Studium des Buches ›Mein Kampf‹ in Anstalten wie dieser angebracht sei. Sie erinnern sich, Herr Rektor?«
François nickt. Aus seinen blauen Augen, ernst, nicht feindselig, nicht einmal ungütig, sieht er Vogelsang an. Der ist jetzt dabei, seinen letzten, besten Sieg auszuschmecken. Denn tief in der Brust saß ihm noch immer der Stachel, daß er damals keine rechte Antwort gefunden hatte auf die Schmähung des verehrten Buches. Mit jener Anekdote von dem Kaiser Sigismund, der über den Grammatikern stehe, hat dieser Mensch ihm damals die Abfuhr erteilt. Jetzt, spät, aber treffend, weiß Vogelsang die Antwort. »Erlauben Sie mir«, fährt er elegant fort, »Ihnen jene Anekdote von dem Konzil von Konstanz, auf die Sie mich damals hinwiesen, den Führer ironisch mit dem Kaiser gleichsetzend, mit einer andern Anekdote aus der Kirchengeschichte zu erwidern. Bei der Synode von Zypern« – er sprach langsam, pointierend – »führte ein Bischof das Wort des Heilands vor dem Gichtbrüchigen an: ›Hebe dein Bett auf und wandle.‹ Aber das Wort ›Krabbaton‹, das dort steht, war dem gelehrten, auf stilistische Feinheiten erpichten Kirchenfürsten zu vulgär, er ersetzte es durch das literarische ›Skimpous‹. Da sprang der heilige Spyridon auf und schrie ihn an: ›Bist du besser als der, der Krabbaton gesagt hat, daß du dich schämst, seine Worte zu gebrauchen?‹«
François hatte aufmerksam zugehört. Er war ein sehr gerechter Mann. Das war keine schlechte Erwiderung, für einen Völkischen eine auffallend gute. Er saß da, überdachte das, schwieg.
Vogelsang mißverstand dieses Schweigen. Er hatte den andern zerschmettert. Wie er dahockte, klein, auch in seiner wichtigsten Waffe, dem Wort, vom Gegner besiegt, hatte der gutgelaunte Oberlehrer geradezu Mitleid mit ihm. Ein nationaler Mann, wenn er erst das Knie auf der Brust des Gegners hat, ist großzügig. Jetzt wirst du mal was erleben, mein Junge. Er wird den Mann, warum schließlich nicht, noch einpaar Monate im Amt lassen, unter scharfer Kontrolle natürlich, so daß er die Herzen der Jugend nicht länger vergiften kann. Buße tun freilich muß er vorher. Bernd Vogelsang will seine Zerknirschung sehen. Ohne daß läßt er ihn nicht durch. Anerkennen soll der Mann seine Niederlage, expressis verbis. »Sie wissen«, sagt er, »daß ich im Unterrichtsministerium das Personalreferat übernehme. Ich kenne Sie ja nun besser als die meisten Ihrer Kollegen. Aber für die Entscheidung, die ich vielleicht bald zu treffen habe, ist mir eines wichtig: Wie stehen Sie jetzt zu unserer Streitfrage? Sagen Sie ja zu dem heiligen Spyridon meiner Anekdote? Beharren Sie auf Ihrem Prinzip, daß das Ethos eines Buches Ihren Schülern nicht nahegebracht werden darf, wenn sein Stil Ihnen nicht genügt?«
François fand Bernd Vogelsangs Haltung eigentlich nicht unanständig. Der Mann bietet ihm noch ein paar Monate Frist, vielleicht sogar noch länger. Es ist eine Verlockung. Aber er weiß, es wird nicht bei diesem einen Opfer sein Bewenden haben. Man wird immer mehr von ihm verlangen. Immer von neuem wird er sich entscheiden müssen, ob er eine neue Unanständigkeit
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