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Die Geschwister Oppermann - Wartesaal-Trilogie: [2]

Die Geschwister Oppermann - Wartesaal-Trilogie: [2]

Titel: Die Geschwister Oppermann - Wartesaal-Trilogie: [2] Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Lion Feucht Wanger
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hielt den Kopf gesenkt, er sah heillos zerbeult aus. Für den winzigen Teil eines Augenblicks sah Herr Wolfsohn sein Gesicht, es war gelb, fahl, ein riesiger blauschwarzer Fleck lief über das Auge.
    Herr Wolfsohn hatte Marie nichts davon gesagt, aber er brachte das gelbe, fahle, erschöpfte Gesicht des Menschen nicht mehr aus seinem Hirn. Immer seither, wenn er, nach Hause kommend, in die Friedrich-Karl-Straße einbog, spähte er scheu, ob da nicht eines jener großen Autos halte. Nacht für Nacht hatte er Angst, es könnten plötzlich die mächtigen Scheinwerfer des Autos in seine Fenster fallen, trotzdem das unmöglich war; seine Wohnung lag viel zu hoch. Er stellte sich vor, wie es mitten in der Nacht läutet, und eh man Zeit gehabt hat, aufzumachen, sind sie schon herein, und man hat eins mit dem Knüppel überm Aug, und man hat einen Fleck, groß wie der Fleck über dem Bild, und das Gesicht gelb und fahl wie jener Mensch.
    Er schlief schlecht in diesen Nächten. Marie hatte er kein Wort von seinem Erlebnis erzählt; um so mehr traf es ihn, als sie einmal, wie er schlaflos lag, plötzlich näher an ihn heranrückte und sagte: »Ich hab solche Angst, Markus, heute nacht kommen sie.« Er wollte etwas Heftiges erwidern, was das für ein Bockmist sei, aber er konnte es nicht. Sie sprach ja nur aus, was er selber dachte. Er konnte nicht mehr einschlafen, und er merkte, daß auch sie nicht mehr schlief. SeineAngst steigerte sich. Er sagte sich, das sei doch alles Stuß, er habe doch nichts ausgefressen. Vier Millionen und zweihunderttausend Menschen leben in dieser Stadt Berlin, er hat genauso viel und so wenig getan wie sie alle, warum soll denn gerade er Angst haben? Aber es nützte nichts. Er dachte an den Packer Hinkel, er dachte an Herrn Zarnke, und er hatte Angst, immer mehr Angst, er schwitzte, der Magen tat ihm weh, er wünschte, es wäre erst Morgen. Dann wieder hatte er eine furchtbare Wut, daß gerade er solche Angst ausstehen müsse. Warum denn er? Warum denn nicht Herr Zarnke? Eine zweite solche Nacht jedenfalls macht er nicht mehr durch. Er schmeißt es hin. Das ist ja Unsinn, so zu leben. Er geht einfach fort, über die Grenze, irgendwohin. Überall ist es besser als so. Wenn es nur erst Morgen wäre.
    So wie Markus Wolfsohn und seine Frau lagen viele in Berlin und in den Städten des Reichs. Sie hatten nichts getan, aber ein Packer Hinkel war da oder ein Herr Zarnke, und sie fürchteten, der werde ihnen die Landsknechte auf den Leib schicken. Ihre Väter hatten hier seit Jahrhunderten gelebt, in den meisten Fällen länger als die Väter der Landsknechte, und sie konnten sich ein Leben anderswo schwer vorstellen. Dennoch hätten sie alle gerne dies Land verlassen, ihr Heimatland, oh, wie gerne. Aber wie sollten sie anderswo leben? Wenn sie Betriebe hatten, dann zwang man sie, ihre Betriebe für nichts wegzugeben. Wenn sie Geld hatten, ließ man sie ihr Geld nicht mitnehmen, und die andern Länder ließen sie ohne Geld nicht herein. Einige gab es auch, wie Herrn Weinberg, die blieben in Deutschland, weil sie sich nicht vorstellen konnten, wie sie mit weniger Geld auskommen sollten als bisher; sie zogen es vor, ständig in Angst und Gefahr zu leben und bei ihrem Geld zu bleiben.
    Was Herrn Wolfsohn anlangt, so fühlte er sich am Morgen sehr zerschlagen. Aber als er sich abgeduscht hatte und ins Geschäft fuhr, dachte er nicht mehr daran, aus Deutschland wegzuziehen. Wohin denn sollte er fahren? Nach Palästina? Ohne Geld lassen sie einen da doch nicht herein. Und wassoll er dort machen? Siedeln? Oliven pflücken? Weintrauben keltern? Er hat keine rechte Vorstellung, wie das vor sich geht. Man tritt mit den Füßen auf den Trauben herum, und dann gärt es. Eine angenehme Arbeit jedenfalls ist es nicht. Und mit zweitausendsechshundertvierundsiebzig Mark wird es auch nicht lange gären. Bis man das hier aufgelöst hat und bis man fortkommt, Paßgeschichten, Reisegeld, dann sind es überhaupt noch höchstens zweitausend. Und nach Frankreich? Wenn er auch eine gute französische Aussprache hat, eine Menge hat er trotzdem vergessen, und wenn man sagen kann »Bonjour, Monsieur«, dann genügt es sicher noch lange nicht, daß sie einen in Paris Möbel verkaufen lassen.
    Übrigens war es die Nacht darauf besser, und zwei weitere Nächte schlief er fest und gut. Aber dann fand er, Herr Hinkel schaue ihn so komisch von der Seite an, die Nacht darauf war die Angst wieder da, und wieder die Nacht darauf war es ganz

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