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Die Geschwister Oppermann - Wartesaal-Trilogie: [2]

Die Geschwister Oppermann - Wartesaal-Trilogie: [2]

Titel: Die Geschwister Oppermann - Wartesaal-Trilogie: [2] Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Lion Feucht Wanger
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ab.
    Gustav, während Jacques Lavendels heisere Stimme behaglich in dem altmodischen Singsang plätscherte, blätterte in seinem Gebetbuch, in seiner Haggada, beschaute die naiven Illustrationen. Da saß Pharao in einer Badewanne, die Krone auf dem Kopf, mit starrem Gesicht, es waren die zehn Plagen, und das Wasser verwandelte sich in Blut. Da saß er mit dem gleichen starren Gesicht auf dem Thron, und um ihn, es waren immer noch die zehn Plagen, hüpften Frösche. Übrigens hatte man, wenn man die zehn Plagen aufzählte, bei der Nennung jeder einzelnen einen Finger in den Wein zu tauchen, einen nach dem andern, die zehn Finger der Hand; aus dem Becher der Freude nahm man die Tropfen weg, weil diese Freude bezahlt war mit den Plagen der andern. Der eigenen Plagen allerdings gedachte man auch recht ausgiebig. Da waren, auf den naiven Bildern seines Buches, Juden, die unter den Peitschen der Aufseher Ziegel schleppten und Lehm, die Städte Piton und Ramses zu bauen. Eigentlich hatten die Juden es leicht damals; es sind einfache Peitschen, mitdenen diese Aufseher auf sie einschlagen. Jetzt schlagen sie mit Gummiknüppeln und Stahlruten, und man hört auch einiges von versengten Handflächen und Fußsohlen. Und plötzlich war das Bild wieder da, das Gustav unablässig verfolgte, seitdem er jenes Telegramm erhalten hatte: sein Freund Johannes Cohen, auf der Kiste stehend, sie war dreieckig komischerweise und schloß mit einer scharfen Kante ab; Johannes aber tanzte auf der Kante herum, machte Kniebeugen, groteske, sprang federnd hoch und wieder in die Knie, auf die Hampelmannart jenes berühmten Tänzers, den Gustav einmal in der Pantomime gesehen hatte, streckte die Arme aus, und in jeder Beuge, papageienhaft, rief er: »Ich Judenschwein habe mein Vaterland verraten.«
    Gustav zwang sich zurück zu den Bildern seiner Haggada. Da sitzen sie um einen langen Tisch herum, eine Gesellschaft Juden, und halten ihr Abendmahl. Ja, seit etwa dreitausend Jahren so feiern sie ihre »Befreiung«. Es ist eine etwas zweideutige Freiheit, die ihnen beschert ist. Wenn sie Gott anflehen, seinen Grimm über ihre Feinde auszugießen, dann öffnet sie zum Zeichen der Zuversicht die Türen, auf daß die Feinde auch von dieser ihrer Zuversicht Kenntnis nähmen. Vorsichtige Leute aber, etwa Herr Weinberg, lassen vorher auf dem Korridor nachschauen, ob auch niemand da sei, der hören könnte. Trotzdem glauben sie hartnäckig an ihre endgültige Befreiung. Seit fast neunzehnhundert Jahren jetzt stellen sie ihren Becher Weines hin für den Propheten, den Vorläufer des Messias, dickköpfig, Jahr für Jahr, und am anderen Morgen konstatieren die Kinder enttäuscht, daß der Becher noch voll ist, daß der Prophet wieder einmal nicht getrunken hat. »Es ist uns aufgetragen, am Werke zu arbeiten, aber es ist uns nicht gegeben, es zu vollenden.«
    Jacques Lavendel war fertig mit dem ersten Teil des Gottesdienstes. Man begann zu essen. Bis jetzt hatte man hebräisch und aramäisch über das Land Ägypten gesprochen, aus dem Gott die Juden vor dreitausend Jahren befreit hat, jetzt sprach man deutsch über das Deutschland, aus dem sienoch nicht befreit waren. Denn nur ein kleiner Teil konnte aus dem Land des Grauens fliehen; es waren viele, die man nicht herausließ, und ließ man einen heraus, dann sperrte man ihm sein Vermögen. Wies man im Ausland auf das Schauerliche hin, was in Deutschland geschah, dann nahmen sie das zum Vorwand, die Juden dort noch ärger zu drücken. Soll man deshalb davon ablassen, die zivilisierte Welt gegen dieses Deutschland der Barbarei aufzurütteln? Nein. Darüber sind alle an diesem Tisch sich einig. Denn ob mit oder ohne Vorwand, die Völkischen sind fest entschlossen, das Vermögen der Juden in die eigene Tasche zu leiten, selber in ihre Stellungen einzurücken, sie zu vernichten. Man darf sich also nicht beirren lassen. Immer wieder muß man der Welt sagen, wie in diesem Deutschland alle kulturfeindlichen Urtriebe als Tugenden gerühmt werden, wie man dort die Hordenmoral des Urwalds zur Staatsreligion erhebt. Aber die Oppermanns sind kluge Leute, sie kennen die Welt. Diese Welt ist lau. Man hat Guthaben in Deutschland, die man nicht verlieren will, man hat Interesse an Lieferungen für die deutschen Rüstungen, man fürchtet den Bolschewismus, der die Herrschaft der Völkischen ablösen könnte. Humanität und Zivilisation sind da schwache Argumente. Es müßten handfestere dazukommen, die Welt zum Eingreifen zu

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