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Die Geschwister Oppermann - Wartesaal-Trilogie: [2]

Die Geschwister Oppermann - Wartesaal-Trilogie: [2]

Titel: Die Geschwister Oppermann - Wartesaal-Trilogie: [2] Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Lion Feucht Wanger
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der schauerlichsten Revolution? Aber ganz heimlich, gegen ihre Vernunft, hofften sie trotzdem, es werde anders kommen. Man wird zurückkehren, Deutschland wird groß und gesund werden, wie es war.
    Jacques Lavendel forderte sie auf, wieder an den Tisch zu kommen. Er war auf der vorletzten Seite seiner Haggada. »Da müßt ihr noch mitmachen«, bat er, freundlich zuredend. Es war aber das Schlußstück der Haggada, jenes uralte, aramäischeLied von dem Lämmlein, das mein Väterlein um zwei Groschen gekauft und das die Katze totgebissen hat. Und nun beginnt Kreislauf und Vergeltung: der Hund reißt die Katze und der Stock schlägt den Hund und das Feuer verbrennt den Stock und die Flut löscht das Feuer und der Ochs säuft die Flut und der Schlächter schlägt den Ochsen und der Tod schlägt den Schlächter und Gott schlägt den Tod. Ein Lämmlein, ein Lämmlein. Jacques Lavendel, kopfwiegend, die Augen halb geschlossen, hingegeben, psalmodierte das simple, tiefe, melancholische Lied. Geheimnisvoll klangen die aramäischen Worte; auch die Übersetzung, die dem aramäischen Text beigedruckt war, klang verschollen, beruhigend und bedrohlich zugleich. Gustav, durch Jacques Lavendels Singsang, hörte die verbissene, schwäbische Stimme: »Sie haben die Maßstäbe zerbrochen«, und er sah die Hand die falsche Inschrift: »2,50 Meter« wegwischen und das richtige Maß wieder anschreiben.
    Und dann war das Lied zu Ende, und in das Schweigen hinein sagte Heinrich: »Well, Daddy, du singst ja ganz schön; aber wenn du uns das Lied auf dem Grammophon vorgespielt hättest, wäre es noch schöner gewesen.«
    Man ging in ein anderes Zimmer. Jacques Lavendel, sich aus einem alten Ghettojuden in einen bürgerlichen Herrn von heute verwandelnd, erzählte von seinen Plänen. Er wird zunächst ein paar Monate hierbleiben, gründlich faulenzen. Eigentlich muß er dem Führer dankbar sein, daß er ihn, ein bißchen heftig, veranlaßt hat, endlich einmal auszuspannen. Er wird viel lesen. Man hat viel zuwenig gelernt. Der Junge allein kann es nicht für einen nachholen, wenn auch sein Rat mit dem Grammophon für gute Beobachtungsgabe zeugt. Auch reisen wird er. Es ist kein Verlaß auf Bücher und Zeitungen. Man muß in Amerika, Rußland, Palästina mit eigenen Augen anschauen, was wird.
    Martin, wie er Jacques so sprechen hört, denkt, dieser Jacques Lavendel habe es leicht, zu reisen. Das Schönste an einer Reise ist die Heimkehr. Jacques Lavendel hat hier dieses Haus, wo er hingehört, er hat eine Staatsangehörigkeit, er istder einzige mit sicherem Boden unter den Füßen. Die andern alle sind unbehaust; wenn ihre Pässe abgelaufen sind, wird man sie kaum erneuern. Martin hat sich eine harte Haut zugelegt; dennoch, bei dem Gedanken, daß das Haus an der Gertraudtenstraße fortschwimmt, daß jetzt eigentlich dieses Zufallshaus in Lugano das einzig Feste ist, was die Oppermanns haben, gibt es ihm einen Stich. Und jetzt gar sagt Klara, bisher, wie immer, die Stillste von allen, in ihrer freundlichen, resoluten Art: »Es scheint, vorläufig weiß von uns noch keiner genau, wohin er geht. Ihr wißt, wenn einer Ferien machen will, hier ist er jederzeit willkommen. Es wäre uns eine Freude, wenn ihr euch manchmal hier treffen wolltet.« Sie sprach nüchtern wie immer, aber alle spürten es: jetzt hatten die Oppermanns keinen Mittelpunkt mehr, die Geschichte Immanuel Oppermanns und seiner Kinder und Enkel war aus.
    Heute sitzen sie noch zusammen. Aber in Zukunft wird sie höchstens noch der Zufall zusammenführen. Die Heimat ist ihnen weggeglitten, sie haben Berthold verloren, das Haus in der Gertraudtenstraße und alles ringsherum, Edgars Laboratorium, das Haus in der Max-Reger-Straße. Was drei Generationen in Berlin, was drei mal sieben Generationen von ihnen in Deutschland aufgebaut haben, ist hin. Martin geht nach London, Edgar nach Paris, Ruth ist in Tel Aviv, Gustav, Jacques, Heinrich gehen wer weiß wohin. Sie werden verweht über die vier Meere der Welt, in alle acht Winde.
    Immer dichter mittlerweile breiteten sich die Nebel der Lüge über Deutschland. Hermetisch abgeschlossen von der übrigen Welt lag das Reich, preisgegeben den Lügen, die die Völkischen Tag für Tag vielmillionenfach aus Lautsprechern und aus gedrucktem Papier darüber ausschütteten. Sie hatten für diesen Zweck ein Sonderministerium gegründet. Mit allen Mitteln modernster Technik wurde den Hungernden suggeriert, sie seien satt, den Unterdrückten, sie seien

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