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Die Geschwister Oppermann - Wartesaal-Trilogie: [2]

Die Geschwister Oppermann - Wartesaal-Trilogie: [2]

Titel: Die Geschwister Oppermann - Wartesaal-Trilogie: [2] Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Lion Feucht Wanger
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frei, den von der steigenden Empörung der gesamten Welt Bedrohten, sieseien vom Erdkreis um ihrer Kraft und Herrlichkeit willen beneidet.
    Das Reich rüstete zum Krieg, innerhalb und außerhalb seiner Grenzen, die Verträge offensichtlich brechend. Ziel des Lebens sei der Tod auf dem Schlachtfeld, verkündeten die großen Männer der Völkischen in Wort und Schrift. Krieg sei die erstrebenswerte Erfüllung des nationalen Schicksals, verkündeten die Lautsprecher. Alle freie Zeit der Jüngeren wurde auf militärische Übungen verwendet, die Straßen hallten wider von Kriegsliedern. Aber der »Führer«, in feierlichen, wild pathetischen Reden, versicherte, das Reich halte sich strikt an die Verträge, wolle nichts als den Frieden. Dem Volk erklärte man augenzwinkernd, diese Reden des Führers seien nur für das dumme Ausland bestimmt, damit man ungestört rüsten könne. Der hohe Zweck heilige diese aus »nordischer List« geborene »Tarnung«. So suchte die Regierung fünfundsechzig Millionen Menschen in einem Bunde augenzwinkernder Hinterlist zu vereinigen.
    In diesem Geist erzog man die Jugend. Man lehrte sie, der Krieg sei nicht verloren worden, das deutsche Volk sei das edelste der Welt und darum innen und außen von tückischen Feinden bedroht. Man hielt die Jugend an, Fragern zu erklären, ihre militärischen Übungen seien nichts als »Sport«. Man lehrte die Kinder, wer eine Wahrheit sage, die den Völkischen nicht nutze, sei ein Lump und vogelfrei. Man lehrte die Kinder, sie gehörten dem Staat, nicht ihren Eltern. Man verhöhnte und bespie, was ihre Eltern rühmten, rühmte, was ihren Eltern fluchenswert erschien, und bestrafte sie hart, bekannten sie sich zur Gesinnung ihrer Eltern. Man lehrte sie lügen.
    Kein schlimmeres Verbrechen gab es in diesem Deutschland der Völkischen als das Bekenntnis zur Vernunft, das Bekenntnis zum Frieden und aufrechte Gesinnung. Die Regierung verlangte, daß jeder seinen Nächsten scharf beobachte, ob er auch die von den Völkischen vorgeschriebene Überzeugung bekunde. Wer nicht gelegentlich eine Anzeige erstattete, galt als verdächtig. Nachbar bespitzelte den Nachbarn,Sohn den Vater, Freund den Freund. Man flüsterte in den Wohnungen, denn das laut gesprochene Wort drang durch die Wände. Man hatte Angst vor seinen Kameraden, vor seinen Angestellten, vor dem Kellner, der einem die Speisen brachte, vor dem Nebenmann in der Straßenbahn.
    Lüge und Gewalt gingen ineinander. Die Völkischen schafften die Grundsätze ab, die den Weißen seit der Französischen Revolution als die Elemente der Gesittung galten. Sie verkündeten, vor ihrem Gesetz sei der Mensch nicht gleich Mensch. Sie führten die Sklaverei wieder ein und »tarnten« sie als »freiwilligen Arbeitsdienst«. Sie sperrten ihre Gegner ein, hielten sie schlechter als Tiere, marterten sie und nannten das »körperliche Ertüchtigung«. Sie brannten ihnen Hakenkreuze in die Haut, zwangen sie, einander zu bepissen, Gras mit dem Mund auszuraufen, führten sie in lächerlichen Aufzügen durch die Straßen und nannten das »Erziehung zu nationaler Gesinnung«. Das Gesetz: »Du sollst nicht töten« wurde abgeschafft. Der politische Mord wurde als hehre Tat gepriesen, der »Führer« nannte Mörder, weil sie Mörder waren, seine »Kameraden«, man errichtete Mördern Gedenktafeln, riß Gemordete aus ihren Gräbern, machte einen Mörder, weil er Mörder war, zum Polizeipräsidenten. Es wurden im ersten Vierteljahr der völkischen Herrschaft im Reich fünfhundertdreiundneunzig ungesühnte Morde begangen, mehr ungesühnte Morde als in dem ganzen Jahrzehnt vorher, und dies waren nur die bekannt gewordenen, dokumentarisch belegten Mordtaten. Auch wurden in den ersten Monaten der völkischen Herrschaft mehr Menschen hingerichtet als in den fünfzehn Jahren vorher.
    Lüge und Elend gingen ineinander. Die Völkischen sagten »Freiheit und Brot«, aber sie meinten Freiheit nur für ihre Anhänger, die Gegner totzuschlagen, und Brot für ihre Anhänger aus dem Brot und den Stellungen der andern. Sie vertrieben die Begabten aus dem Land oder sperrten sie ein, um Platz für ihre unbegabten Anhänger zu schaffen. Sie verteuerten die Lebensmittel und senkten die Löhne. Hunger undElend im Volke stiegen. Die Zahl der Eheschließungen im ersten Vierteljahr der völkischen Herrschaft blieb um fünfeinhalb Prozent hinter der entsprechenden Zahl des Vorjahrs zurück, die Sterblichkeit stieg um sechzehn Prozent. Die Arbeitslosigkeit

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