Die Geschwister Oppermann - Wartesaal-Trilogie: [2]
bewegen.
Martin sprach von seinen Plänen. Er für sein bescheidenes Teil will, was an Deutschland gut ist, auf andern Boden verpflanzen helfen. Von jeher war er interessiert an dem Innenarchitekten Bürkner. Aber das Möbelhaus Oppermann war nicht der rechte Start für ihn, dort konnte er ihn nicht wirksam propagieren. Jetzt will er ihn nach London holen, will einen exklusiven Laden aufmachen, nur um die Erzeugnisse dieses Bürkner zu vertreiben. Große Gewinne erzielen will er nicht. Für wen auch? Aber eine Aufgabe muß der Mensch doch haben.
Gustav, als Martin dies sagte, spürte ein geradezu körperliches Unbehagen. Früher hatte er Martins »Würde« manchmal belächelt; jetzt war er bestürzt, daß Martin diese Würdeso ganz und gar eingebüßt hat. Niemals früher hätte er so redselig über seine Lage, seine Pläne, seine »Aufgabe« gesprochen. Diese »Aufgabe«. Man nimmt mit, was an Deutschland gut war, verpflanzt es ins Ausland. Du machst es dir zu einfach, mein Guter. Und Deutschland selber, überläßt man es dem Verfall? Martin weiß ja gar nicht, wie gut er es hat. Da sitzt diese Liselotte neben ihm. Ihr Gesicht ist weniger hell als früher, zugegeben, ihre langen, grauen Augen sind stumpfer geworden. Trotzdem: wie fest und gelassen sie dasitzt. In dieser Liselotte nimmt Martin wahrhaftig, wohin immer er geht, ein Stück Deutschland mit. Und solcher wie diese Liselotte gibt es viele, treu und zäh, viele wie die Bilfinger und Frischlin. Das ganze Deutschland, auch heute noch, ist voll von ihnen. Soll man die einfach im Stich lassen? In der Schublade seines lächerlichen Hotelschreibtischs liegen Bilfingers Dokumente. Johannes Cohen ist im Konzentrationslager, wird »gebessert«. Wer in Deutschland weiß von diesen Dingen? Muß man es denen in Deutschland nicht sagen? Gustav fühlt sich seinen Brüdern, allen hier am Tisch, sehr verknüpft. Sie sind klug, er hat Respekt vor ihrem besseren Wirklichkeitssinn. Dennoch jetzt findet er ihre Klugheit lau, abgestanden. Wer Bilfingers Dokumente, wer Johannes Cohens Qualen einmal so gespürt hat wie er, der kann sich dieser Klugheit nicht mehr fügen.
Die Mahlzeit war zu Ende, Jacques Lavendel setzte den Gottesdienst fort. Aber er war konziliant; er nahm es nicht weiter übel, daß einige seiner Gäste sich in eine Ecke zurückzogen, leise weiterredend.
Das war Gina. Mit ihrer sorgenvollen Hausfrauenstimme erzählte sie, vor welch schwerer Entscheidung sie gestanden sei. Sollte sie Edgar nach Paris begleiten oder Ruth nach Palästina? Sie haben jetzt das Kind aufs Schiff gebracht. Das Kind hat sich die Begleitung der Mutter ernstlich verbeten, Ruth ist ja so selbständig und so gescheit. Aber wenn sie sich’s auch verbittet, sowie Edgar das neue Laboratorium in Paris halbwegs unter Dach hat, fahren sie hinüber nach Palästina und schauen sich nach dem Kind um.
Edgar selber hört nichts von ihrem schnellen, farblosen Geschwatz. Er sitzt am Tisch, wo Jacques Lavendel psalmodiert, und blättert in seiner Haggada. Er hat als Knabe Hebräisch gelernt, nicht sehr gut; etwas mühselig buchstabiert er sich die Worte zusammen, entziffert mit Hilfe der Übersetzung ihren Sinn. Er ist Kosmopolit, er hat von jeher gelächelt über das Bestreben der Zionisten, eine tote Sprache wieder lebendig zu machen. Jetzt muß sogar der kleine Dr. Jacoby Hebräisch treiben, um drüben bestehen zu können, und anderswo hat er wirklich keine Aussichten. Er, Edgar, hat Aussichten. Aber er hat nicht viel Freude daran. Er ist nicht mehr jung, ein schweres Jahr liegt hinter ihm, kein leichtes vor ihm. Auch er beschaut sich die naiven Bilder seiner Haggada. Da werfen ägyptische Männer jüdische Säuglinge in den Nil. Was für unvollkommene Methoden hatten sie damals. Unsere Ägypter machen das gründlicher. Sie wollen die Juden allesamt sterilisieren, die Sozialisten dazu, alle Geistigen dazu; nur mehr die Völkischen sollen sich fortpflanzen, niemand mehr soll dasein, ihnen in die Suppe zu spucken.
Die in der Ecke sprachen wieder über Deutschland. Sie bemühten sich, trocken zu bleiben. Aber ihre Sachlichkeit war Maske. Ihre Heimat, ihr Deutschland, hat sich als Betrügerin erwiesen. So fest war man auf dieser Heimat gestanden, seit Jahrhunderten, und plötzlich glitt sie einem unter den Füßen fort. Man erwog nüchtern, daß man wohl nie mehr werde zurückkehren können; denn wodurch kann diese Herrschaft der Völkischen abgelöst werden als durch Krieg und Jahre des Blutes und
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