Die Geschwister Oppermann - Wartesaal-Trilogie: [2]
Konzentrationslager abgeführt. Eine gewisse Genugtuung natürlich verspürte Markus Wolfsohn. Einmal hatte er sich ausgemalt, wie er es Herrn Zarnke geben wird. Nun hatte es das Schicksal Herrn Zarnke gegeben, viel schrecklicher, als Herr Wolfsohn es gewünscht hatte; denn wenn schon die Zelle so furchtbar war, wie erst mußte es im Konzentrationslager sein.
Herr Wolfsohn selber wiegte sich nicht in falscher Sicherheit. Emsig betrieb er seinen Auszug aus Deutschland, seinen Aufbruch unter einen besseren Himmel.
Als er die Zusicherung hatte, daß man seinem Antrag auf Genehmigung eines Einwanderungsvisums für Palästina stattgeben werde, erzählte ihm eines Tages Frau Wolfsohn, Frau Zarnke sei heute dagewesen und habe gebeten, ob man denn nicht etwas für ihren Mann tun könnte. Der sei unschuldig wie ein Säugling und sitze im Konzentrationslager, und die Kosten dafür würden ihr von ihrer Unterstützung abgezogen, so daß sie für sich und die Kinder nur mehr zweiundfünfzig Mark im Monat habe; davon könne sie nicht einmal die Miete zahlen, sie müsse die Wohnung an ihren Schwager abgeben. Herr Wolfsohn duckte das Triumphgefühl, das in ihm hochkommen wollte, schüttelte nur den Kopf und sagte: »Ja, ja, so geht’s.« Später sagte er, man dürfe sich natürlich unter keinen Umständen irgendeine Kritik an den Maßnahmen der Regierung erlauben, ohne sich zu gefährden.Aber wenn er erst jenseits der Grenze sei, sei er bereit, Frau Zarnke eine einmalige Beihilfe von einem halben palästinensischen Pfund zu spendieren.
Jacques Lavendel holte den mittleren der ungesäuerten Fladen heraus, die in der altertümlichen, mehrstöckigen Silberschüssel verwahrt waren, und brach ihn in zwei Stücke. Er lehnte sich zurück auf das mit Atlas bezogene Kissen, hebräische Buchstaben in schwerer Goldstickerei waren darauf. Mit seiner heiseren Stimme, in aramäischem Singsang, rezitierte er: »Dies ist das Brot des Elends, das unsere Väter aßen in Ägypten. Wer hungrig ist, komme und esse mit. Wer bedürftig ist, komme und feiere mit uns das Passahfest. Dieses Jahr hier, das kommende Jahr in Jerusalem. Dieses Jahr Knechte, das kommende Jahr freie Männer.« Dann wandte er sich an seinen Sohn: »So, Heinrich, jetzt bist du daran.« Und Heinrich seinesteils rezitierte die uralten Fragen, die an diesem Abend der Jüngste der Tischgesellschaft zu stellen hat: »Wodurch unterscheidet sich diese Nacht von allen andern Nächten?« Alle am Tisch dachten an Berthold; denn hätte er diesen Abend noch erlebt, dann, er war etwas jünger als Heinrich, wäre es an ihm gewesen, dieses Stück zu rezitieren.
Es war der Abend des 11. April, des 14. Nisan jüdischer Rechnung, der Sederabend. Hochheilig seit Urzeiten gilt den Juden diese Nacht, sie feiern in ihr mit häuslichem Gottesdienst und Festmahlzeit die Erinnerung an die Befreiung aus Ägypten und an das Abendmahl des Passah. Lebendig durch die Jahrtausende blieb ihnen diese Erinnerung; denn »nicht Pharao allein ist aufgestanden wider uns«, heißt es in der Liturgie des Abends, »sondern in jedem Zeitalter erhoben sich Menschen wider uns, um uns zu vernichten, aber Gott rettete uns aus ihrer Hand«.
Seit Gustavs fünfzigstem Geburtstag waren die Oppermanns nicht mehr so vollzählig versammelt wie heute im Hause Jacques Lavendels am Luganer See. Auch Joachim Ranzow und Liselotte waren da. Man saß um den großen, feierlichgedeckten Tisch. Die Geräte, die für den Ritus dieses Abends benötigt wurden, bildeten den schönsten Teil von Jacques Lavendels Sammlung. Auf dem Tisch stand die altertümliche, mehrstöckige Silberschüssel für die dünnen, weißen Fladen ungesäuerten Brotes, dazu kleine Silberplatten aller Art, eine mit einem Knochen und einem Rest gebratenen Fleisches, eine mit Salatblättern, ein Wägelchen mit süßem, aus Äpfeln und Nüssen bereitetem Mus. Silberbecher standen herum, ein ganz großer, gefüllt, unberührt, für den Propheten Elias, den Vorläufer des Messias, falls er, wie zu hoffen stand, in dieser Nacht als Gast erscheinen sollte. Jedem der Tischgenossen hatten Jacques Lavendel ein Buch mit der für den Abend vorgeschriebenen Gebetordnung hingelegt, eine »Haggada«. Er besaß viele Ausgaben dieses Buches, sehr altertümliche darunter, mit naiven Illustrationen. Merkwürdig wie diese Bücher war die ganze Feier, leidenschaftlich, naiv, heiter, schwermütig, voll hohen Stolzes und voll hoher Demut; kindliche Symbole und allertiefste lösten einander
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