Die Geschwister Oppermann - Wartesaal-Trilogie: [2]
Lessing-Biographie wahrscheinlich vollenden können. Sie lächelte still und bösartig. Sie beneidete ihn nicht.
In der Unterprima des Königin-Luise-Gymnasiums, während der Fünfminutenpause zwischen der Stunde für Mathematik und der für Deutsch, standen die Schüler in erregten Diskussionen. Die Behörde hatte sich jetzt entschieden, wer den auf so betrübliche Weise ums Leben gekommenen Dr. Heinzius ersetzen sollte, ihre Wahl war endgültig auf Dr. Bernd Vogelsang gefallen, bisher Oberlehrer am Gymnasium in Tilsit, jenen Mann, von dem Rektor François bei der Geburtstagsfeier Gustav Oppermanns erklärt hatte, er habe eine gewisse Angst vor ihm. Die Schüler waren begierig auf ihren neuen Ordinarius, es hing für jeden einzelnen viel davon ab, ein Mann welchen Schlages der Neue war. Im allgemeinen war es für Berliner Jungens ein Fressen, mit Lehrern aus der Provinz zu tun zu haben. Ihnen fühlten sie sich von vorneherein überlegen. Was konnte ein Mann aus Tilsit vom Leben wissen? Gab es dort einen Sportpalast, eine Untergrundbahn,ein Stadion, einen Tempelhofer Flughafen, einen Lunapark, eine Friedrichstraße? Zudem wußten auch die Schüler bereits, daß Dr. Vogelsang im Geruch des Nationalismus stand. Im Königin-Luise-Gymnasium, unter dem milden, liberalen Rektor François, war Nationalismus nicht beliebt.
Der Schüler Kurt Baumann erzählt zum hundertstenmal einen Fall aus dem Kaiser-Friedrichs-Gymnasium. Dort haben die Pennäler dem nationalistischen Oberlehrer Schultes auf schicke Art gezeigt, was eine Harke ist. Sowie er mit seinem Quatsch loslegte, fingen sie an, mit geschlossenen Lippen zu brummen. Sie hatten tagelang trainiert, so daß das intensive Gebrumm die Stimme des Lehrers zudeckte, ohne daß man den Gesichtern der Jungens irgend etwas ablesen konnte. Zuerst hatte Oberlehrer Schultes geglaubt, die Ursache des Lärms sei ein Flugzeug. Man hatte ihn in dieser Meinung bestärkt. Als aber das Flugzeug regelmäßig in Erscheinung trat, sowie er mit seinem vaterländischen Scheibenhonig anfing, roch er Lunte. Allein man hielt dicht. Man bemühte sich nach Kräften, die Ursache des Lärms zu entdecken, erging sich in tausend Vermutungen. War es die Zentralheizung, die Wasserleitung, waren es Männer im Keller? Man ließ den Herrn zappeln. Es war ein nervöser, sensibler Herr, der nationalistische Oberlehrer Schultes. Als das Gebrumm das viertemal losging, brach er in Tränen aus, drehte sich gegen die Wand. Später freilich, als das Rektorat die Untersuchung in die Hand nahm, hatten die Nationalisten der Klasse nicht dichtgehalten, und die Rädelsführer waren bestraft worden. Immerhin, was die Jungens am Kaiser-Friedrichs-Gymnasium erreicht hatten, war allerhand. Die Methode war auch am Königin-Luise-Gymnasium brauchbar, falls der Herr aus Tilsit versuchen sollte, einen zu piesacken.
Heinrich Lavendel fand die Methode nicht brauchbar. Er saß auf dem Pult seiner Bank, stämmig, blond, die Beine abwechselnd auf gymnastische Art vorschnellend. Heinrich Lavendel, trotzdem er ziemlich klein war, sah gesünder aus, kräftiger als die meisten seiner Kameraden. Die waren fastalle blaß und rochen nach Stubenluft; seine zarte Haut war frisch und gebräunt, er benutzte seine ganze Mußezeit zum Training in freier Luft. Interessiert auf die Spitzen seiner auf und ab schnellenden Beine schauend, sagte er bedächtig: »Nein, das nützt gar nichts. Das wirkt vielleicht das ersteund das zweitemal, das drittemal wird man gefaßt.« – »Was nützt sonst?« fragte Kurt Baumann leicht gekränkt. Heinrich Lavendel hörte auf, die Beine zu schnellen, schaute ringsum, öffnete die sehr roten Lippen, sagte leichthin, mit den breiten Schultern zuckend: »Passive Resistenz, Mensch. Das ist das einzig Senkrechte.«
Berthold schaute nachdenklich aus seinen grauen, kühnen Augen auf seinen Vetter Heinrich Lavendel. Der hatte es leicht. Erstens war er Amerikaner, manchmal noch floß ihm aus seinen ersten Jahren ein englisches Wort in die Rede, und zweitens war er als Torwart des Fußballteams der Prima unersetzlich, zwei Tatsachen, die auf einen nationalistischen Lehrer Eindruck machen mußten. Für ihn, Berthold, war die Chose schwieriger. Nicht nur, weil der neue Mann Deutsch und Geschichte lehrte, Bertholds Lieblingsfächer, sondern vor allem auch, weil es von diesem Mann abhängt, ob sein geliebter Vortrag über den »Humanismus« steigen kann.
Um den Schüler Werner Rittersteg hat sich eine Gruppe gebildet. Sechs
Weitere Kostenlose Bücher