Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Die Geschwister Oppermann - Wartesaal-Trilogie: [2]

Die Geschwister Oppermann - Wartesaal-Trilogie: [2]

Titel: Die Geschwister Oppermann - Wartesaal-Trilogie: [2] Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Lion Feucht Wanger
Vom Netzwerk:
übler Ton für die Unterprima.
    Es fügte sich günstig für Vogelsang, daß man gerade »Die Hermannsschlacht« von Grabbe las, das Stück eines Halbklassikers aus der ersten Hälfte des neunzehnten Jahrhunderts, roh, im Gedanklichen schwach, aber voll echter Wildheit, zuweilen sehr bildhaft. Die Hermannsschlacht, der großartige Eintritt der Deutschen in die Geschichte, diesererste große Sieg der Deutschen über die Welschen, das war ein Lieblingsthema Bernd Vogelsangs. Er zog Vergleiche zwischen den Hermanndichtungen Grabbes, Klopstocks, Kleists. Er stellte selber wenig Fragen, er sprach drauflos. Er war kein Mann, der Feinheiten liebte, es ging ihm nicht um Nuancen wie dem toten Dr. Heinzius, er suchte seine Begeisterung auf die Jungens zu übertragen. Gelegentlich ließ er auch die Schüler zu Wort kommen. Er gab sich kameradschaftlich, wollte erst einmal erkunden, wie weit überhaupt sie sich mit vaterländischer Dichtung befaßt hätten. Einer erwähnte Kleists wilden Hymnus »Germania an ihre Kinder«. »Eine großartige Dichtung«, ereiferte sich Vogelsang. Er kannte das Gedicht auswendig, zitierte einige jener gewaltigen Verse irrsinnigen Hasses gegen die Welschen:

    »Alle Triften, alle Stätten
    Färbt mit ihren Knochen weiß;
    Welchen Rab und Fuchs verschmähten,
    Gebet ihn den Fischen preis;
    Dämmt den Rhein mit ihren Leichen;
    Laßt, gestäuft von ihrem Bein,
    Schäumend um die Pfalz ihn weichen,
    Und ihn dann die Grenze sein!
    Eine Lustjagd, wie wenn Schützen
    Auf die Spur dem Wolfe sitzen!
    Schlagt ihn tot! Das Weltgericht
    Fragt euch nach den Gründen nicht!«
    Ekstatisch zelebrierte Vogelsang die Verse des Hasses. Die Narbe, die seine rechte Wange zertrennte, lief rot an, aber das ganze übrige zerteilte Antlitz blieb maskenhaft starr, während die Worte zwischen seinem hohen Kragen und seinem weißlichblonden Schnurrbärtchen herauskamen. Sie nahmen sich sonderbar aus in seinem breiten Ostpreußisch. Der ganze Mann war ein wenig lächerlich. Aber Berliner Jungens haben ein feines Ohr dafür, was ehrlich ist und was Krampf.Die Schüler der Unterprima spürten gut, daß der Mann da vorn, so erheiternd sein Anblick war, aus dem Herzen sprach. Sie lachten nicht, sie schauten eher betroffen, neugierig auf diesen Menschen, ihren Lehrer.
    Bernd Vogelsang, als die Schulglocke läutete, hatte den Eindruck Sieg auf der ganzen Linie. Er war mit der Unterprima eines liberalen, aufsässigen Berliner Gymnasiums fertig geworden. Rektor François, der Schlappschwanz, wird sich wundern. Gewiß ist die Klasse schon angefressen von dem zersetzenden Gift des Berliner Intellektualismus. Aber Bernd Vogelsang ist voll Zuversicht: er wird das Kind schon schaukeln.
    In der folgenden Viertelstundenpause beruft er die beiden Schüler zu sich, die die nächsten Diskussionsvorträge zu halten haben. Rede ist wichtiger als Schrift, diese These des Führers der Völkischen hält er heilig, er nimmt die Diskussionsvorträge sehr ernst. Mit dem ersten Schüler versteht er sich leicht. Der will über die Nibelungen sprechen, über das Thema: »Was können wir Heutigen aus dem Kampf der Nibelungen mit König Etzel lernen?« – »Bon«, sagt Vogelsang. »Wir können manches daraus lernen.«
    Aber was will der andere, dieser Grauäugige? »Der Humanismus und das zwanzigste Jahrhundert«? Er schaut sich den Grauäugigen an. Ein großer Bursche, auffallend, das schwarze Haar und die grauen Augen gehen nicht zusammen. In Berlin mag so ein Junge gute Figur machen: in einer Jungmannschaft, im Gleichschritt marschierend, stinkt er ab. »Wie bitte?« fragt Dr. Vogelsang. »Der Humanismus und das zwanzigste Jahrhundert? Wie soll man in einer knappen Stunde über ein so riesiges Thema fruchtbar diskutieren?« – »Herr Dr. Heinzius hat mir einige Fingerzeige gegeben«, sagt bescheiden Berthold, die schöne, männlich tiefe Stimme gedämpft. »Ich wundere mich, daß mein Vorgänger Themen so allgemeiner Art zugelassen hat«, fährt Dr. Vogelsang fort, seine Stimme klingt scharf, quäkend, streitbar. Berthold schweigt. Was soll er dazu sagen? Dr. Heinzius, der sicherlich einiges dazu hätte sagen können, lagim Stahnsdorfer Waldfriedhof, er selber hatte eine Schaufel Erde auf den Sarg geworfen, der konnte ihm nicht helfen. »Haben Sie sich lange mit der Arbeit beschäftigt?« fragte die quäkende Stimme weiter. »Ich bin so ziemlich fertig mit dem Vortrag«, erwiderte Berthold. »Ich sollte ihn ja in der nächsten Woche halten«, fügte

Weitere Kostenlose Bücher