Die Geschwister Oppermann - Wartesaal-Trilogie: [2]
oder sieben Jungens, die Nationalisten der Klasse. Sie haben es bisher nicht leicht gehabt, jetzt beginnt für sie große Zeit. Sie stecken die Köpfe zusammen. Getuschel, Gelächter, wichtige Mienen. Oberlehrer Vogelsang ist im Reichsvorstand der »Jungen Adler«. Eine große Sache. Die jungen Adler sind der Geheimverband der Jugend, die Luft um diesen Verband herum ist voll Abenteuer und Geheimnis. Man trinkt Blutsbrüderschaft, es existiert eine Feme; wer das Geringste von den Beschlüssen verrät, wird grausam bestraft. Das Ganze ist ungeheuer aufregend. Oberlehrer Vogelsang wird einen bestimmt heranziehen.
Dieser Oberlehrer Dr. Bernd Vogelsang sitzt mittlerweile im Amtszimmer des Rektors François. Er sitzt stramm da,nicht angelehnt, die mit blonden Härchen überflaumten rötlichen Hände auf die Schenkel gestemmt, die blaßblauen Augen unentwegt auf François gerichtet, bemüht, mit möglichst wenigen zackigen Bewegungen auszukommen. Rektor François sucht unwillkürlich den Säbel an der Seite seines neuen Oberlehrers. Bernd Vogelsang ist nicht groß, er ersetzt die mangelnde Stattlichkeit durch doppelte Forschheit. Ein weizenblondes Schnurrbärtchen trennt Ober- und Untergesicht, ein langer Schmiß zerteilt die rechte Wange, ein strammer Scheitel die Haare.
Schon zwei Tage vorher, als er sich bei Rektor François vorstellte, hat die Anstalt auf Bernd Vogelsang keinen günstigen Eindruck gemacht. Was er bisher gesehen hat, bestätigte alle seine trüben Vorahnungen. Gefallen hat ihm unter dem ganzen Personal der Anstalt ein einziger: Pedell Mellenthin. Der war strammgestanden vor dem neuen Oberlehrer. »Gedient?« hatte Bernd Vogelsang gefragt. »Beim 94.«, hatte Pedell Mellenthin erwidert, »dreimal verwundet.« – »Recht so«, hatte Vogelsang geantwortet. Aber das war bisher auch das einzige Plus. Durch den Schlappschwanz da, diesen Rektor François, ist das Gymnasium gänzlich auf den Hund gekommen. Gut, daß jetzt endlich er, Bernd Vogelsang, in Erscheinung tritt, um den Laden in Schwung zu bringen.
Rektor François lächelte ihm aus seinem weißen Knebelbart freundlich zu. Frau François hatte ihm Weisung gegeben, vorsichtig zu sein, sich mit dem Neuen gut zu stellen. Leicht machte das der neue Mann Herrn François nicht. Die abgehackte Sprechweise, die knappe, gezackte und dabei verblassende Wortbildung, das abgebrauchte Leitartikelvokabular, all das war ihm tief zuwider.
Der Neue hatte sich mit ruckartiger Bewegung einer schönen, alten Marmorbüste zugewandt, einem häßlichen grundgescheiten Kopf, dem des Schriftstellers und Gelehrten François-Marie Arouet Voltaire. »Gefällt Ihnen die Büste, Herr Kollege?« fragte der Rektor höflich. »Die andere gefällt mir besser«, erklärte unumwunden der Neue in seinem breiten,quäkenden Ostpreußisch, in die Ecke gegenüber weisend, auf die Büste eines andern häßlichen Mannes, den Kopf des preußischen Schriftstellers und Königs Friedrich von Hohenzollern. »Ich kann verstehen, Herr Rektor«, fuhr er fort, »warum Sie dem großen König sein Widerspiel entgegengestellt haben. Hier der geistige Mensch in seiner ganzen Größe, dort die Intellektbestie in ihrer ganzen Erbärmlichkeit. Die Würde des deutschen Menschen wird gerade durch den Kontrast gekennzeichnet. Aber, erlauben Sie mir, Ihnen das offen zu gestehen, Herr Rektor, mir wäre es unangenehm, wenn ich die Fratze dieses Welschen den ganzen Tag vor Augen haben müßte.« Rektor François lächelte noch immer, bemüht höflich. Er fand es schwierig, mit dem neuen Lehrer Kontakt zu finden. »Ich glaube, es wird Zeit«, sagte er, »daß ich Sie Ihrer Klasse vorstelle.«
Die Schüler erhoben sich, als die beiden Herren eintraten. Rektor François sprach ein paar Sätze, er sprach mehr von dem toten Dr. Heinzius als von Dr. Vogelsang. Er atmete auf, als er die Tür zwischen sich und dem Neuen geschlossen hatte.
Dr. Vogelsang war während der Rede des Rektors stramm dagestanden, Brust heraus, die blaßblauen Augen steif vor sich hin gerichtet. Jetzt setzte er sich, lächelte, strengte sich an, umgänglich zu sein. »Na, Jungens«, sagte er, »nun wollen wir einmal sehen, wie wir miteinander auskommen. Zeigt mal, was ihr los habt.« Den meisten der Schüler hatte der neue Chef beim ersten Anblick mißfallen. Der hohe Kragen, der krampfige Schneid, sie schätzten das nicht. Provinz, wo sie am dunkelsten ist, hatten sie sich gesagt. Aber seine ersten Worte waren nicht ungeschickt, das war kein
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