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Die Geschwister Oppermann - Wartesaal-Trilogie: [2]

Die Geschwister Oppermann - Wartesaal-Trilogie: [2]

Titel: Die Geschwister Oppermann - Wartesaal-Trilogie: [2] Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Lion Feucht Wanger
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er hinzu, fast wie eine Entschuldigung.
    »Das tut mir leid«, sagte Vogelsang, sehr höflich übrigens. »Ich liebe so allgemeine Themen nicht. Ich möchte sie aus prinzipiellen Gründen nicht zulassen.« Berthold nimmt sich zusammen, aber er kann nicht verhindern, daß sein fleischiges Gesicht ein ganz klein wenig zuckt. Vogelsang nimmt es wahr, nicht ohne eine gewisse Befriedigung. Sie zu verbergen, wiederholt er: »Ich bedaure, daß Sie viel Mühe vertan haben. Aber: principiis obsta. Am Ende trägt ja auch jede Arbeit ihren Lohn in sich selbst.«
    Berthold ist wirklich ein bißchen blaß geworden. Aber der andere hat recht, man kann mit dem Humanismus wirklich in einer knappen Stunde kaum fertig werden. Dieser Vogelsang ist Berthold nicht sympathisch, aber er ist ein Kerl, das hat er während der Stunde gezeigt. »Was für ein Thema würden Sie mir vorschlagen, Herr Doktor?« fragt er. Seine Stimme klingt heiser. »Lassen Sie mal sehen«, überlegt Dr. Vogelsang. »Wie heißen Sie übrigens?« unterbricht er sich. Berthold Oppermann nennt seinen Namen. Ah, denkt der Lehrer, jetzt klärt es sich. Darum also das befremdende Thema. Der Name war ihm schon in der Klassenliste aufgefallen. Es gibt jüdische Oppermanns, und es gibt christliche Oppermanns. Man braucht nicht lange zu kratzen: der Jude, der Zersetzer, der Feind verrät sich dem Kundigen sogleich. Humanismus und zwanzigstes Jahrhundert. Immer verstecken sie sich hinter den Masken großer Worte.
    »Wie wäre es«, sagte er leichthin, kameradschaftlich – diesem gefährlichen Jungen gegenüber gilt es doppelt auf der Hut zu sein –, »wie wäre es mit einem Vortrag über Hermann den Deutschen? Was zum Beispiel meinen Sie zu dem Thema: ›Was bedeutet uns Heutigen Hermann der Deutsche?‹«
    Oberlehrer Vogelsang sitzt unbeweglich vor dem Katheder, sein Blick ist steif auf den Knaben gerichtet. Will er mich hypnotisieren? denkt der. Hermann der Deutsche. Es heißt Hermann der Cherusker, Mensch. Übrigens, Hermann der Cherusker oder Hermann der Deutsche, mir ist das Scheibenhonig. Mir liegt das nicht. Er sieht angestrengt auf das zerteilte Gesicht des Lehrers, auf seinen scharfen Scheitel, die starren, blaßblauen Augen, den hohen Kragen. Mir liegt das nicht. Ich schätze das weniger. Aber wenn ich nein sage, findet er’s bestimmt feige. Der Humanismus ist ihm zu allgemein. Hermann der Deutsche. Er will mich nur herausfordern. Klar, Mensch. Ich will sagen, ich werde mir’s überlegen. Dann wird er erwidern: Tun Sie das, mein Junge, und es wird klingen wie: Drückeberger. Bin ich ein Drückeberger?
    »Was bedeutet uns Heutigen Hermann der Deutsche?« kommt nochmals die quäkende Stimme Vogelsangs. »Was meinen Sie, Oppermann?«
    »Gut«, sagte Berthold.
    Das Wort ist noch nicht verhallt, möchte er es schon zurücknehmen. Er hätte sagen sollen: Ich werde mir’s überlegen. Er wollte das auch sagen. Aber es ist zu spät. »Recht so«, anerkennt Vogelsang. Es ist für ihn ein guter Tag heute, er ist auch aus dieser Unterredung als Sieger hervorgegangen.
    Berthold, als die andern in der nächsten Pause ihn fragten, wie er mit dem neuen Chef zurechtgekommen sei, blieb einsilbig. »Er ist so halb und halb. Man muß erst sehen.« Weiter äußerte er sich nicht.
    Ein gutes Stück des Nachhausewegs pflegte er zusammen mit Heinrich Lavendel zu machen. Die beiden Knaben radelten, Bücher und Hefte mit Lederriemen an die Lenkstange geschnallt, bald nebeneinander, einer die Hand auf der Schulter des andern, bald getrennt durch den Verkehr.
    »Er hat mir meinen Vortrag umgeschmissen«, sagte Berthold. »Au Backe«, sagte Heinrich. »Das Schwein. Der denkt sich: nu gerade. Es ist pure persönliche Gemeinheit.« Berthold erwiderte nichts. Sie wurden durch Autos getrennt. Ander nächsten roten Ampel fanden sie sich wieder zusammen. Sie hielten eng nebeneinander, jeder einen Fuß auf den Boden gestellt, gepreßt zwischen Wagen. »Er schlug mir vor: ›Was bedeutet uns Hermann der Deutsche?‹«, sagte Berthold. »Hast du angenommen?« fragte, zwischen Autogehupe, Heinrich. »Ja«, sagte Berthold. »Hätte ich nicht gemacht«, sagte Heinrich. »Paß auf, der will dich nur hereinlegen.« Gelbes Licht, grünes Licht, sie radelten los. »Hast du eine Ahnung, wie er ausgesehen haben mag?« fragte Berthold. »Wer?« fragte Heinrich, der an das Fußballtraining des Nachmittags dachte. »Hermann der Cherusker natürlich«, sagte Berthold. »Wird eben so’n oller Indianer gewesen

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