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Die Geschwister Oppermann - Wartesaal-Trilogie: [2]

Die Geschwister Oppermann - Wartesaal-Trilogie: [2]

Titel: Die Geschwister Oppermann - Wartesaal-Trilogie: [2] Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Lion Feucht Wanger
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sein wie alle andern«, erklärte Heinrich. »Denk mal darüber nach«, bat Berthold. »Okay«, sagte Heinrich; manchmal, wenn er herzlich sein wollte, kamen ihm die Worte seiner Kindheit. Dann trennte sich ihr Weg.
    Berthold rang mit seinem Thema. Das Ganze war ein großer Kampf, Dr. Vogelsang der Feind. Es war Vogelsang geglückt, das Schlachtfeld zu bestimmen, er hatte Sonne und Wind für sich, kannte das Terrain besser als Berthold. Vogelsang war listig, Berthold war mutig und zäh.
    Grüblerisch saß er über den Büchern, die sich mit seinem Thema befaßten, über Tacitus, Mommsen, Dessau. Hat eigentlich Hermann der Cherusker wirklich etwas zuwege gebracht? Genutzt hat ihm der Sieg verdammt wenig. Schon zwei Jahre später standen die Römer wieder über dem Rhein; von den drei verlorenen Legionsadlern holten sie sich zwei zurück. Das Ganze war ein Kolonialkrieg, eine Art Boxeraufstand, mit dem die Römer rasch fertig wurden. Hermann selber, von den Römern besiegt, wurde von seinen eigenen Landsleuten erschlagen; sein Schwiegervater schaute von der kaiserlichen Loge aus zu, wie die Römer Hermanns Frau und seinen Sohn im Triumph aufführten.
    Was bedeutet uns Hermann der Deutsche? Allgemeine Erwägungen nützten Berthold nichts. Er mußte Bilder haben,Greifbares. Die Schlacht. Drei Legionen. Eine Legion sind rund sechstausend Mann, mit Troß und Zubehör zehn- bis zwanzigtausend. Sümpfe, Wälder. Es muß ähnlich wie bei Tannenberg gewesen sein. Eine Wagenburg, brauender Nebel. Die Deutschen hatten vor allem die römischen Juristen auf dem Kiek, sie sparten sie auf, sie unter ausgesuchten Martern umzubringen. Die Deutschen, las Berthold bei dem deutschnationalen Historiker Seeck, fanden, öffentliches Recht gehe gegen die individuelle Ehre. Sie wollten kein Recht. Das war der Hauptgrund ihres Aufstands.
    Man müßte wissen, wie Hermann ausgeschaut hat. Das war Berthold sogleich aufgegangen. Oft und angestrengt suchte er sich ein Bild von ihm zu machen. Das Denkmal im Teutoburger Wald, ein großer Sockel und eine leere Statue darauf, das gibt nichts her. »Du, Mensch, doof war er nicht, dein Hermann«, sagte Heinrich Lavendel zu ihm. »Sie müssen eine andere Art Verstand gehabt haben, die Boys, als wir. So eine Art Indianerverstand. Schlau war er, das ist einmal sicher.« Er hatte wohl jene nordische List, überlegte Berthold, von der jetzt soviel die Rede ist. Dr. Vogelsang hat sie auch.
    Berthold lag wach in der Nacht, das kam jetzt oft vor, er hatte nur die kleine Bettlampe eingeschaltet. Die Tapete wies ein zartes Muster auf, hundertmal das gleiche, einen Phantasievogel, auf einer hängenden Ranke sitzend. Schloß man halb die Augen, dann ergab die Linie, die der Bauch des Vogels beschrieb, zusammen mit der Linie der hängenden Ranke den Umriß eines Gesichts. Ja, jetzt hatte er’s: das ist das Gesicht Hermanns. Breite Stirn, flache Nase, langer Mund, das Kinn kurz, aber stark. Berthold lächelte. Jetzt hat er seinen Mann. Jetzt ist er Dr. Vogelsang über. Er schlief befriedigt ein.
    Bis jetzt hatte Berthold, außer mit Heinrich Lavendel, mit niemandem über seine Schwierigkeiten gesprochen. Von nun an verkehrte sich seine Schweigsamkeit ins Gegenteil. Nur vor seinen Eltern schwieg er sich auch weiter aus. Sie merkten wohl, daß der Junge aufgerührt war, aber sie wußten ausErfahrung, wenn man ihn fragte, wurde er nur störrisch. So warteten sie ab, bis er von alleine den Mund auftun würde.
    Aber mit vielen andern sprach Berthold, und viele Meinungen bekam er zu hören. Da war zum Beispiel der lebenskundige Chauffeur Franzke. Für den war die Schlacht im Teutoburger Wald weiter kein Problem. »Klar, Mensch«, entschied er. »Damals hatte der Nationalsozialismus sozusagen noch seine Berechtigung.« Jacques Lavendel hingegen erklärte, die Barbaren hätten damals den gleichen Fehler gemacht wie siebzig Jahre später die Juden, nämlich einen aussichtslosen Aufstand gegen eine glänzend organisierte Übermacht. »So was kann nie gut ausgehen«, schloß er, den Kopf schräg, die Lider weit über die blauen Augen herabgezogen.
    Viel sympathischer als diese nüchterne Ausdeutung war Berthold die Meinung seines Onkels Joachim. Berthold schaute mit Achtung und Liebe auf Joachim Ranzow, den Bruder seiner Mutter. Ministerialdirektor Ranzow, schmal, groß, gepflegt, gemessen in Wort und Wesen, hatte sich das Herz des Jungen dadurch gewonnen, daß er ihn wie einen Erwachsenen behandelte. Was Onkel Joachim zum

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