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Die Geschwister Oppermann - Wartesaal-Trilogie: [2]

Die Geschwister Oppermann - Wartesaal-Trilogie: [2]

Titel: Die Geschwister Oppermann - Wartesaal-Trilogie: [2] Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Lion Feucht Wanger
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bemerkt, fast zum Krach zwischen den Chefs gekommen. Der Seniorchef, Dr. Gustav, sonst ein umgänglicher Herr, der sich nicht in die Geschäfte einmischte, hatte den Sessel als kompromittierend geschmacklos bezeichnet, und eigentlich war dieser Barocksessel Modell 483 der Anlaß zur Errichtung der Kunstabteilung und zur Berufung Dr. Frischlins geworden. Dem Verkäufer Markus Wolfsohn übrigens hatte der Sessel Modell 483 gut gefallen; er war repräsentativ, und die kleinbürgerliche Kundschaft des Hauses Oppermann liebte einen gewissen Prunk. Wie immer, das Modell hatte nicht eingeschlagen. Der Sessel nahm viel Raum weg, die Wohnungen waren klein, es gab weniger umfangreiche, billigere Sessel, in denen man bequemer saß; es war trotz aller Mühe nicht geglückt, die Herzen der Kundschaft für den Barocksessel zu erwärmen. Man gab die Stücke mit Verlust ab, zur Hälfte des ursprünglichen Preises, und die Verkäufer, die sie an den Mann brachten, erhielten eine Prämie von fünf Prozent.
    Jetzt also war Herr Wolfsohn dabei, ein solches Stück an den Mann zu bringen. Mit beredten Worten legte er dar, wie vornehm sich sogleich jeder Raum ausnehme, den dieser Barocksessel schmücke. Er hatte Frau Gericke aufgefordert, auszuprobieren, wie bequem man in diesem Sessel sitze; er hatte nicht umhinkönnen, ganz nebenbei zu bemerken, wie vornehm gerade sie sich in diesem Sessel ausnehme.
    Um zwölf Uhr acht hatte er es geschafft. Frau Gericke erklärte sich bereit, den Barocksessel Modell 483 um fünfundneunzig Mark zu erstehen.
    Herr Markus Wolfsohn hatte also acht Minuten von seiner Tischzeit eingebüßt, die um zwölf Uhr begann und um zwei Uhr endete. Aber es war ihm nicht leid. Im Gegenteil, er kam sich gehoben vor. Er hatte es im Gefühl gehabt, daß die schwierige Kundin am Ende auf den Barocksessel Modell 483, diesen alten Ladenhüter, anbeißen wird. Zwölf Uhr acht, acht verlorene Minuten, aber vier Mark fünfundsiebzig verdient. Das sind auf die Minute umgerechnet neunundfünfzigPfennig. Ein schöner Verdienst. Wenn man ihm jede Minute so bezahlt, würde er gern seine ganze Tischzeit opfern.
    Herr Wolfsohn beeilt sich, in Lehmanns Caféstuben zu kommen, wo er die Mittagspause zu verbringen pflegt. Vorher kauft er sich die »BZ am Mittag«. Die »BZ« liegt auch in Lehmanns Caféstuben aus, aber sie ist immer belegt, und heute, nach dem Glücksfall mit der Käuferin des Barocksessels, darf er sich seine eigene »BZ« leisten. Er findet den Fensterplatz, den er liebt, packt die Stullen aus, die ihm seine Frau mitgegeben hat, schlürft seinen heißen Kaffee. Herr Lehmann, der Besitzer, kommt selbst an den Tisch. »Alles richtig, Herr Wolfsohn?« erkundigt er sich. »Alles richtig«, bestätigt Herr Wolfsohn.
    Kauend, schlürfend, überfliegt er seine Zeitung. Die Arbeitslosenziffern steigen; schrecklich, diese Krise. Ihn persönlich freilich schreckt sie nicht. Er sitzt seit zwanzig Jahren im Hause Oppermann, er sitzt fest. Er hat, trotz der Krise, erst heute mittag wieder vier Mark fünfundsiebzig Prämie gemacht. Es ist das siebentemal in diesem November, daß er Prämie gemacht hat. Er ist mit sich zufrieden.
    Herr Wolfsohn, während er die Zeitung umschlägt, sieht im Spiegel sein Bild. Er macht sich nichts vor. Er sieht leidlich aus; aber es gibt Kollegen, die besser aussehen. Aus dem Spiegel schaut ihm ein Herr entgegen, eher klein als groß, dunkelhäutiges Gesicht, schwarze, flinke Augen, schwarze, gescheitelte, stark gefettete Haare, schwarzes Schnurrbärtchen, das ohne viel Erfolg auf Flottheit aspiriert. Herrn Wolfsohns Kummer sind die kleinen, getrennt stehenden, schadhaften Zähne. Es ist vor allem die Zahnlücke oben in der Mitte, die stört. Die Krankenkasse hat sich bereit erklärt, ihm einen Zahn einsetzen zu lassen. Ein Vereinsbruder aus dem Sparverein Die Ollen Matjesheringe, der Dentist Hans Schulze, hat ihm auseinandergesetzt, daß man das mittels einer sogenannten Brücke viel besser machen könnte. Aber dafür ist die Krankenkasse nicht zu haben, dafür müßte er aus eigener Tasche blechen. Zirka achtzig Mark kostete dasregulär. Der Olle Matjeshering Hans Schulze würde es für siebzig machen, aus purer Vereinsbrüderschaft, vielleicht kann ihn Herr Wolfsohn sogar auf fünfundsechzig drücken. Siebzig Mark sind viel Geld, aber die Ausgaben für den eigenen Körper sind die nächstliegenden. Was man ihm da in den Mund setzt, das trägt er sein ganzes Leben lang mit sich herum und dann weiter

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