Die Geschwister Oppermann - Wartesaal-Trilogie: [2]
Prosa, nicht?« fragte François. »Es ist wunderschön«, sagte Berthold.
»Ja«, sagte François, bemüht, an den kühnen, grauen Augen des Jungen vorbeizuschauen, »es fällt mir nicht leicht, Oppermann, es fällt mir sogar verdammt schwer. Aber Sie wissen wohl selbst, die Sache hat Kreise gezogen. Ich muß Sie leider vor die Alternative stellen …« Er schnaubte ein bißchen durch die Nase, sprach nicht zu Ende.
Berthold weiß natürlich, worum es sich handelt. Stünde er als Dritter im Zimmer, er sähe, gerecht wie er ist, die Pein aufdem Gesicht des Mannes. So aber, randvoll mit Bitterkeit, denkt er nicht daran, dem andern etwas zu ersparen. »Vor welche Alternative, Herr Rektor?« fragt er und zwingt François, ihn anzuschauen. »Ich muß Sie bitten«, sagt François, und sein Atem ist noch immer nicht in Ordnung, »sich wegen jener Äußerung in Ihrem Vortrag zu entschuldigen, sie zu widerrufen. Wenn Sie es nicht tun«, er versucht jetzt beamtenhaft trocken zu sprechen, »muß ich Sie leider von der Anstalt fortschicken.« Er sieht das bittere, traurige Gesicht des Jungen. Er muß sich rechtfertigen vor ihm, das ist das Allerwichtigste. »Ich sage Ihnen ehrlich, Oppermann«, hastet er sich ab, »mir wäre lieber, Sie widerriefen. Es wäre mir scheußlich, wenn ich einen meiner Lieblingsschüler relegieren müßte. Meinen liebsten Schüler«, verbessert er sich.
Er steht auf, Berthold will auch aufstehen; aber »bleiben Sie, bleiben Sie, Oppermann«, drückt er ihn nieder. Er läuft auf und ab zwischen den Büsten Voltaires und Friedrichs. Dann, plötzlich, hält er vor Berthold an, wechselt vollends den Ton, spricht zu ihm, ein Mann zum andern: »Meine eigene Stellung ist gefährdet. Begreifen Sie, Oppermann. Ich habe Frau und Kinder.«
Berthold, in all seiner Bitterkeit, kann nicht umhin, die Not des andern zu sehen. Aber er hat jetzt keine Zeit für Mitleid. Ich muß auch manches tun, was ich nicht möchte, klingt ihm, ungewohnt, bösartig knurrend, die Stimme seines Vaters im Ohr. Wir werden alle Schweine, denkt er. Alle werden wir Schweine und gemein durch diese Zeit.
»Wir haben Hebbel gelesen«, fängt er schließlich an, langsam, er läßt sich Zeit. »›Gyges und sein Ring‹. Dr. Heinzius hat uns gesagt, der ganze Hebbel hat ein einziges Thema: verletzte Menschenwürde. Laesa humanitas. Ich habe dann noch ›Herodes und Mariamne‹ gelesen. Nicht als Klassenlektüre, für mich. Mariamne könnte sich das Leben retten, wenn sie nur spräche. Sie spricht nicht, sie verteidigt sich nicht. Eher beißt sie sich die Zunge ab. Sie stirbt, aber sie spricht nicht. Dr. Heinzius hat uns sehr deutlich gemacht, was dasist, laesa humanitas. Haben nur alte Könige humanitas? Bin ich ein Dreck? Glaubt ihr, ihr könnt alle auf mir herumtreten, weil ich siebzehn bin und ihr fünfzig oder sechzig? Mariamne ist übrigens eine Jüdin, Herr Rektor. Lesen Sie mein Manuskript, Herr Rektor. Es war ein guter Vortrag. Dr. Heinzius wäre zufrieden gewesen. Bin ich ein schlechter Deutscher, weil Dr. Heinzius überfahren worden ist? Er hat einen nie unterbrochen. Er hat einen zu Ende reden lassen. Was ich gesagt habe, Herr Rektor, ich weiß es nicht mehr genau, aber es war richtig. Ich habe Mommsen gelesen, Dessau, Seeck. Kein Mensch kann was anderes herauslesen. Warum tun Sie mir unrecht, Herr Rektor?«
François hört genau zu. Was für ein kluger, anständiger Junge. Er ist ihm wirklich der liebste seiner Schüler. Was muß er durchgemacht haben in diesen letzten Wochen. Wie muß er dagesessen sein in diesen letzten Wochen vor dem bösartigen Ochsen, dem Vogelsang, unter seinen Kameraden, grausamen, jungen, törichten Menschen. Was soll er dem Jungen antworten? Er möchte ja am liebsten jedes Wort von ihm unterschreiben. Mit beiden Händen. Ehrlicherweise kann er doch nur sagen: Ja. Ja. Sie haben recht, Oppermann. Tun Sie’s nicht. Widerrufen Sie nicht. Gehn Sie fort von meiner Schule. Es ist eine schlechte, dumme Schule geworden, auf der Sie nur Unsinn und Lüge lernen können.
Er macht den Mund auf, aber er merkt, daß er unter der Büste Voltaires steht. Er schämt sich, geht zurück zu seinem Schreibtisch. Da sitzt er, klein, alt. »Als Sie Ihren Vortrag hielten, Oppermann«, sagt er endlich, »hatten Sie recht. In der Zwischenzeit ist leider manches anders geworden. Von vielem, was damals Wahrheit war, muß ich jetzt sagen, daß es Lüge sei.« Er versuchte zu lächeln. »Wir werden in manchem umlernen müssen.
Weitere Kostenlose Bücher