Die Geschwister Oppermann - Wartesaal-Trilogie: [2]
den Raum ein. Gewaltig kam sie auf den schmalen François zu, umbauscht von ihrem Schlafrock. So erfüllt war sie von dem, was sie zu sagen hatte, daß es ihr die Sprache verschlug. Wortlos knallte sie ein großes entfaltetes Zeitungsblatt auf den Schreibtisch, so daß es das Manuskript, die Bände der alten Klassiker, den Klopstock völlig überdeckte. Es war die heutige Ausgabe des Berliner Organs der Völkischen. »Da«, brachte Frau Emilie François heraus, nichts weiter, und stand da, das leibgewordene Verhängnis.
François las. Es war ein Artikel über die Zustände am Königin-Luise-Gymnasium. Diese Schule, längst eine Züchtungsanstalt von Landesverrätern, hieß es, sei jetzt vollends verrottet. Ein jüdischer Schüler, ein hoffnungsvoller Sproß der berüchtigten Familie Oppermann, habe in einem Schulvortrag vor versammelter Klasse Hermann den Befreier aufs wüsteste geschmäht, ohne daß es bis jetzt seinem nationalen Klassenlehrer geglückt wäre, das Früchtchen zur Rechenschaft zu ziehen. Beschützt von dem verwelschten Vorstand der Anstalt, einem typischen Vertreter des Systems, spreize sich noch immer der freche Judenjunge in der Glorie seines Landesverrats. Wann endlich werde die nationale Regierung diesen unerhörten Zuständen ein Ende bereiten?
François nahm die Brille ab, blinzelte. Er fühlte sich sehr elend. »Nun?« fragte drohend Donnerwölkchen.
François wußte nicht, was antworten. »Was für entsetzliches Deutsch«, sagte er nach einer Weile.
Er hätte es besser nicht gesagt; denn diese Äußerung endlich entfesselte Donnerwölkchen. Was? Der Mann hat sich und seine Familie durch seine ewige, phlegmatische Unentschlossenheit ruiniert, und jetzt hat er gegen seine Angreifer nichts vorzubringen, als daß sie schlechtes Deutsch sprachen? War er wahnsinnig? Die Portiersfrau hat ihr den Artikel gebracht, morgen werden ihr zehn Freundinnen den Artikel bringen. Sieht er denn nicht, daß es jetzt aus ist? Mit Schmach und Schande wird man ihn aus dem Amt jagen. Fraglich, ob man ihm Pension zuerkennt. Was dann? Zwölftausendsiebenhundert Mark haben sie auf der Bank. Die Papiere stehen nicht mehr ihre vollen hundert. Es sind nur mehr rund zehntausendzweihundert Mark. Wovon soll man leben? Er, sie und die Kinder? »Von dem da?« fragte sie und schlug mit der Hand auf sein Manuskript; sie erreichte aber nur das Zeitungsblatt.
Rektor François war benommen von dem Gedröhn. Sicherlich war, was Donnerwölkchen sagte, maßlos übertrieben; aber dunkle Stunden stehen ihm bevor, viele und sehr dunkle. Armer Schüler Oppermann. Oppermann war ein Daktylus, gut im Hexameter zu gebrauchen, auch François war ein Daktylus, aber kein reiner, weniger gut zu gebrauchen. »Dulde auch dieses, mein Herz, du hast soviel schon geduldet.« Fernher umplätscherten ihn die Hexameter. Ach, sich ihnen hingeben dürfen.
Frau Emilie nahm sein Schweigen für Verstocktheit. Ihre Erbitterung stieg. In wilden, endlosen Reden – langhinhaltenden, sagte sich der erdrückte François – entlud sich ihre Empörung. Morgen, tobte sie, habe er diesem Lausejungen die Alternative zu stellen: Abbitte in aller Form oder mit Schande aus der Anstalt fortgejagt. Am liebsten ginge sie selber zu dem Vater des Früchtchens oder zu seinem Onkel, seinem saubern Freunde Gustav. Wo sie nur ihre fünf Sinne gehabt habe, als sie ihn, diesen Waschlappen, diesen Schlappschwanz, heiratete. François duckte sich. Es hat keinen Sinn, sich gegen den Sturm aufzurichten. Man kann nur abwarten,bis Donnerwölkchen zu Ende ist. Einmal muß auch ihr die Lunge versagen. Wie gern würde er auf das Abendessen verzichten und sich ins Bett legen.
Frau Emilie hatte ihn so zerzaust, daß die Schläge des andern Tages ihm nicht mehr viel anhaben konnten. Pedell Mellenthin hatte die Zeitung groß und auffallend in der Tasche stecken, alle Lehrer und Schüler auf seinem Weg hatten sie, in mehreren Exemplaren lag sie auf seinem Schreibtisch. Da saß er zwischen Voltaire und Friedrich dem Großen. Eine Schmutzwelle war über seine Anstalt, war über das ganze Land hereingebrochen. Er war schon so überdeckt mit Schmutz, daß er ihn kaum mehr spürte.
Sehr bald auch erschien Oberlehrer Vogelsang im Rektoratszimmer. Er hatte sich verändert. Sein Gesicht war maskenhaft starr, das unheimlich freundliche Lächeln war fort. Er trat als Sieger vor den Besiegten, als Rächer, ehern, der unsichtbare Säbel an seiner Seite klirrte. So, dachte François, mochte Brennus,
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