Die Geschwister Oppermann - Wartesaal-Trilogie: [2]
Sie sind jung, Oppermann. Mir fällt das Umlernen verdammt schwer«. Er stand auf, ging ganz nah an Berthold heran, legte ihm die Hand auf die Schulter. Sagte zaghaft, es klang wie eine demütige Bitte: »Wollen Sie sich nicht entschuldigen, Oppermann?« Aber sogleich, voll Angstvor der Antwort, fügte er hinzu: »Antworten Sie mir nicht jetzt. Überlegen Sie sich’s. Sagen Sie nichts, es hat Zeit, wenn ich Montag die Antwort habe. Schreiben Sie. Oder telefonieren Sie. Wie Sie wollen.«
Berthold stand auf. François sah, wie sehr die Unterredung den Jungen angegriffen hatte. »Nehmen Sie es nicht zu schwer, Oppermann«, sagte er. Und dann, nicht ohne Mühe: »Und vergessen Sie, was ich Ihnen zuletzt gesagt habe. Es war« – er suchte das Wort – »zweckgefärbt. Sie haben einen großen Vorteil, Oppermann. Ob Sie es tun oder nicht, Sie werden immer recht haben.«
Die Unterredung mit François hatte Berthold arg mitgenommen. Wohl war er darauf vorbereitet, daß ähnliches kommen werde, aber jetzt hatte er es gewissermaßen amtlich, daß er etwas Undeutsches, Vaterlandfeindliches getan hat. Er begriff das nicht. War es undeutsch, zu sagen, was ist? Noch vor wenigen Monaten hatte keiner an seinem Deutschtum gezweifelt. Er selber fühlte sich in einem tieferen Sinne deutsch als die meisten seiner Kameraden. Er war voll von deutscher Musik, deutschen Worten, deutschen Gedanken, deutscher Landschaft. Nie in den siebzehn Jahren seines Lebens hatte er anderes gesehen, gehört, gespürt. Und nun auf einmal soll er nicht mehr dazugehören, soll er von Natur anders sein. Wieso? Warum? Wer denn war deutsch, wenn nicht er?
Aber es hat keinen Sinn, über das Allgemeine zu grübeln. Es ist jetzt Sonnabend nachmittag halb vier. Bis morgen abend muß er sich entschieden haben. Soll er widerrufen?
Jemand haben, der einem helfen könnte. Einmal muß doch ein Satz kommen, der ihn anrührt, ein Argument, so einleuchtend, daß alle seine Zweifel verschwinden. Zu seinem Vater kann er nicht gehen. Der hat selber aufs bitterste zu kämpfen. Er kann ihm nicht zumuten, daß er ihm gegen seine eigenen Interessen raten soll. Und soll er der Mutter zumuten, ihm gegen den Vater zu raten?
Er läuft herum in den Straßen der großen Stadt Berlin. Esist trocken und nicht kalt, angenehm zu gehen. Er ist groß und schlank, sein Gesicht ist mager geworden, seine langen, grauen Augen schauen finster, beschäftigt, er ist bitterlich in sich selber versunken. Viele schauen ihn an, viele Frauen besonders, er ist ein schöner Junge, aber er merkt es nicht.
Plötzlich kommt ihm eine Idee, wieso ist er nicht sogleich daraufgekommen? Er fährt hinaus zu Onkel Ranzow.
»Hallo, Berthold«, sagt Ministerialdirektor Ranzow, ein bißchen erstaunt. Berthold, seine Menschenkenntnis hat in den letzten Tagen sehr zugenommen, sieht sogleich, daß Onkel Joachim seinen Besuch in Zusammenhang bringt mit jenem Artikel in der völkischen Zeitung und daß er rasch und angestrengt nachdenkt, was er ihm sagen soll.
Onkel Joachim schenkt ihm zunächst einen scharfen Schnaps ein wie gewöhnlich. Berthold setzt ihm seinen Fall auseinander, dürr, unsentimental. »Ich möchte einen vernünftigen Rat«, bittet er. »Was würdest du an meiner Stelle tun, Onkel Joachim?«
Zu anderer Zeit hätte Ministerialdirektor Ranzow wahrscheinlich die Not des Jungen durch seinen trockenen Ton durchgehört. Hätte sich wohl auch die Mühe genommen, sich in den Jungen hineinzudenken. Leider aber war er in diesen Tagen kaum weniger mit sich selbst beschäftigt als die Oppermanns. Freunde von Einfluß rieten ihm, der selber den Deutschnationalen nahestand, dringlich, von seinen linksstehenden Beamten abzurücken, deren Tage gezählt waren. Aber Joachim Ranzow wollte Leute nicht brüskieren, die er durch Jahre gemeinsamen Dienstes als fähig und zuverlässig hatte schätzenlernen, auch wenn diese Leute auf der Proskriptionsliste standen. Seine Freunde redeten auf ihn ein, bestürmten ihn. Vor allem nicht begriffen sie, wie er nach wie vor mit dem der neuen Regierung verhaßten Ministerialrat Freese persönliche Freundschaft halten konnte, einem eingeschriebenen Mitglied der Sozialdemokratischen Partei. Es war an sich keine Empfehlung für einen hohen Beamten, mit einer jüdischen Familie verschwägert zu sein, die so in Sicht war wie dieOppermanns. Warum zum Beispiel nahm er nicht diesem fatalen Ministerialrat Freese gewisse Funktionen ab? Jeder höhere Beamte, der sich halten wollte, machte
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