Die Gesellschaft des Abendsterns
eine zweite Leiter hinauf durch eine Luke in der Decke. Sie kamen auf dem Dach der Hütte heraus, auf einer kleinen Plattform mit einem niedrigen Geländer. Die Plattform war so hoch, dass sie über die Wipfel der am Hang stehenden Bäume hinwegsehen konnten. Der Hügel war zwar nicht besonders hoch, aber er war die höchste Stelle in der ganzen Umgebung.
»Es ist wunderschön hier«, sagte Kendra.
»Warren ist früher gerne hier heraufgekommen und hat sich den Sonnenuntergang angesehen«, erwiderte Dale. »Es war sein Lieblingsort zum Nachdenken. Ihr solltet das hier einmal im Herbst sehen.«
»Ist das nicht die Stelle, an der früher die Vergessene Kapelle stand?«, fragte Seth und deutete auf einen niedrigen Hügel nicht weit entfernt; der Hügel erstrahlte im Glanz
von unzähligen Blumen, blühenden Sträuchern und Obstbäumen.
»Du hast gute Augen«, bemerkte Dale.
Kendra erkannte den Ort ebenfalls. Sie hatte gleich gemerkt, dass dies derselbe Weg war, auf dem Hugo sie vergangenen Sommer entlanggeführt hatte, um Opa zu retten. Ihre Feenarmee hatte die Kapelle dem Erboden gleichgemacht, nachdem sie Bahumat und Muriel besiegt und eingekerkert hatten. Dann hatten die Feen einen Erdhügel über der Stelle aufgetürmt, an der einst die Kapelle gewesen war, und dafür gesorgt, dass dort eine ebensolche Blumenpracht spross wie in den Gärten beim Haus.
»Ohne diese gruselige alte Kirche dürfte es dort jetzt besser aussehen«, meinte Seth.
»Die Kapelle hatte einen gewissen Charme«, wandte Dale ein. »Vor allem aus der Ferne.«
»Ich kriege langsam Hunger«, brummte Seth.
»Was der Grund ist, warum wir etwas zu essen mitgebracht haben«, erwiderte Dale. »Und in den Schränken ist noch mehr. Kommt, holen wir Tanu und Warren. Ich wette, mein Bruder hat durch all die Bewegung ebenfalls Appetit bekommen.«
»Was werden Sie tun, wenn Sie keine Möglichkeit finden können, ihn zu heilen?«, fragte Seth.
Dale schwieg für einen Moment. »Vor dieser Frage werde ich nie stehen, weil ich niemals aufhören werde, es zu versuchen.«
KAPITEL 7
Der Kerker
A m nächsten Morgen saßen Kendra, Seth, Opa, Oma und Tanu am Küchentisch und frühstückten. Draußen ging die Sonne auf; es versprach ein klarer, feuchter Tag zu werden.
»Was machen wir heute?«, fragte Seth, während er mit einer Gabel sein Omelett zerkleinerte.
»Heute werdet ihr bei mir und eurer Großmutter im Haus bleiben«, antwortete Opa.
»Was?«, rief Seth. »Wohin gehen denn alle?«
»Sind Oma und ich denn niemand?«, fragte Opa.
»Ich meine, wohin gehen die anderen?«, formulierte Seth seine Frage eilig um.
»Das Omelett ist köstlich, Opa«, sagte Kendra, nachdem sie einen Bissen heruntergeschluckt hatte.
»Es freut mich, dass es dir schmeckt, Liebes«, erwiderte Opa geschmeichelt und warf Oma einen kurzen Blick zu, die so tat, als bemerke sie es nicht.
»Sie müssen eine unerfreuliche Aufgabe erledigen«, erklärte Oma.
»Du meinst, eine spannende Aufgabe«, sagte Seth eingeschnappt. Dann wandte er sich an Tanu: »Sie lassen uns fallen? Was sollte dann gestern das Gerede über Teamwork?«
»Eins unserer Ziele war es, dich und deine Schwester zu beschützen«, erwiderte Tanu ruhig.
»Wie sollen wir jemals etwas lernen, wenn ihr uns nur den Kinderkram machen lasst?«, beklagte sich Seth.
Coulter betrat den Raum. Er hatte einen Gehstock dabei, dessen oberes Ende gegabelt und mit einem elastischen Band versehen war, so dass man ihn als Steinschleuder benutzen konnte. »Dorthin, wo wir heute gehen, wollt ihr gar nicht mitkommen«, sagte er.
»Woher wollen Sie das wissen?«, gab Seth zurück.
»Weil ich nicht mitkommen will«, erwiderte Coulter. »Omeletts? Wer hat Omeletts gemacht?«
»Opa«, antwortete Kendra.
Coulter sah verwirrt aus. »Was soll das sein, Stan? Unsere Henkersmahlzeit?«
»Ich wollte mich nur in der Küche nützlich machen«, sagte Opa unschuldig.
Coulter musterte Opa argwöhnisch. »Er muss euch Kinder wirklich lieben«, sagte er schließlich. »Bisher hat er seine Knochenbrüche als Entschuldigung benutzt, sich so weit wie möglich von jedweder Arbeit fernzuhalten.«
»Ich finde es nicht okay, dass ihr uns hierlasst«, rief Seth den Erwachsenen nochmal ins Gedächtnis.
»Wir gehen in einen nicht kartographierten Teil von Fabelheim«, erklärte Tanu. »Wir wissen nicht, was uns dort erwartet, nur dass es gefährlich ist. Wenn alles gut geht, werden wir euch beim nächsten Mal mitnehmen.«
»Sie denken, die
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