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Die Gesellschaft des Abendsterns

Die Gesellschaft des Abendsterns

Titel: Die Gesellschaft des Abendsterns Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Brandon Mull
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Augen zu sehen, fast so, als habe er versucht, seinen Blick auf sie zu fokussieren.
    Dale stemmte erstaunt die Hände in die Hüften. »Die Wunder nehmen kein Ende.«
    »Sie wurde von den Feen geküsst«, sagte Tanu. »Es muss eine nachhaltige Wirkung hinterlassen haben, die Warren spüren kann. Kendra, stell dich bitte neben mich.«
    Kendra ging zu Tanu hinüber. Warren folgte ihr nicht mit seinem Blick. Er starrte weiter geradeaus, als wäre das Flackern, das Kendra gesehen hatte, nur eine Ausgeburt ihrer Fantasie gewesen. Wieder wirkte Warren vollkommen apathisch  – nur dass jetzt Tränen in seinen Augen standen. Es sah seltsam aus, diese leeren Augen voller Tränen in einem leblosen Gesicht. Schließlich quollen die Tränen über und rannen ihm über seine weißen Wangen.
    Dale biss sich in die Faust. Warrens Tränen hörten auf zu fließen. Seine Wangen waren feucht, aber er machte keine Anstalten, die Tränen wegzuwischen. Er ließ mit nichts erkennen, dass er wusste, dass er gerade geweint hatte. Als Dale die Faust wieder aus dem Mund nahm, waren auf seinen Knöcheln die Abdrücke seiner Zähne zu sehen. »Was hat das zu bedeuten?«, fragte er Tanu.
    »Kendra hat ihm durch ihre Berührung etwas übermittelt«,
antwortete Tanu. »Das ist sehr ermutigend. Irgendwo tief in seinem Innern, glaube ich, ist sein Geist unversehrt. Kendra, nimm seine Hand.«
    Kendra trat vor Warren und nahm seine linke Hand. Wieder erwachte er ganz leicht aus seiner Trance. Er blickte auf ihre Hand hinunter, und das seltsame Lächeln kehrte zurück.
    »Schau, ob du ihn auf die Füße ziehen kannst«, sagte Tanu.
    Kendra brauchte nicht fest zu ziehen, da erhob sich Warren auch schon.
    »Da laust mich doch der Affe«, murmelte Dale. »Er bewegt sich sonst nie so bereitwillig.«
    »Führ ihn im Raum herum«, bat Tanu.
    Ohne Warrens Hand loszulassen, führte Kendra ihn durch den Raum. Schlurfend folgte er ihr, wo immer sie hinging.
    »Sie muss nicht mal seine Beine bewegen, um ihn zum Laufen zu bringen«, sagte Dale leise zu Tanu.
    »Das ist mir auch aufgefallen«, erwiderte Tanu. »Kendra, führ ihn zu diesem Stuhl und lass ihn sich hinsetzen. Halt seine Hand weiter fest.«
    Kendra tat wie ihr geheißen, und Warren gehorchte hölzern.
    Tanu trat neben Kendra. »Würde es dir etwas ausmachen, Warren einen Kuss zu geben?«
    Bei dem Gedanken daran stieg ein Gefühl der Scheu in ihr hoch, größtenteils deshalb, weil Warren so gut aussah. »Auf die Lippen?«
    »Nur ein ganz kleiner Kuss«, sagte Tanu. »Es sei denn, du fühlst dich unwohl dabei.«
    »Sie denken, es könnte ihm helfen?«, fragte Kendra.
    »Feenküsse sind von mächtiger Heilkraft«, erwiderte Tanu. »Mir ist bewusst, dass du keine Fee bist, aber sie haben offensichtlich
irgendeine Veränderung in dir bewirkt. Ich möchte sehen, wie er reagiert.«
    Kendra beugte sich an Warren heran. Ihr Gesicht wurde warm. Sie hoffte inbrünstig, dass sie nicht gerade knallrot anlief. Dann versuchte sie, sich Warren als einen Katatoniepatienten vorzustellen, der ein seltsames Heilmittel benötigt, versuchte, den Kuss zu etwas Abstraktem, Klinischem zu machen. Aber Warren war so süß . Kendra musste unwillkürlich an Mr. Powell denken, einen Lehrer, für den sie vor zwei Jahren geschwärmt hatte.
    Was hätte sie dabei empfunden, Mr. Powell zu küssen, wäre es jemals dazu gekommen? Wahrscheinlich hätte sie sich ungefähr so gefühlt, wie sie es jetzt tat: insgeheim auf irgendwie peinliche Weise aufgeregt.
    Alle drängten sich um Kendra, während sie Warren ein schnelles Küsschen auf die Lippen drückte. Sein Mund zuckte kurz, und er blinzelte dreimal. Einen Moment lang umfasste er ihre Hand ein wenig fester. »Er hat meine Hand gedrückt«, sagte Kendra.
    Tanu ließ Kendra Warrens Gesicht streicheln und bat sie, ihn noch ein Weilchen länger herumzuführen. Wann immer sie aufhörte, ihn zu berühren, verschwanden alle Zeichen von Leben, aber er weinte nicht mehr. Wann immer sie ihn berührte, zeigte er ein Lächeln, und manchmal machte er sogar einfache, abgehackte Bewegungen, rieb sich zum Beispiel die Schulter. Aber hinter all diesen Dingen schien kein innerer Vorsatz zu stehen.
    Nachdem sie mit Warrens Reaktionen auf Kendra mehr als eine Stunde lang experimentiert hatten, gingen sie mit ihm nach draußen und sahen zu, wie der Albino ruckartige Hampelmannsprünge vollführte. Dale gelang es, ihn dazu zu bringen, indem er geduldig seine Arme und Beine bewegte, bis Warren die Bewegungen

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