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Die Gesellschaft des Abendsterns

Die Gesellschaft des Abendsterns

Titel: Die Gesellschaft des Abendsterns Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Brandon Mull
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Nacht wieder auf. Warren hackte noch immer. Er hatte den ganzen Garten aufgerissen und einen beachtlichen Teil des Hofs dahinter. Seine Hände waren wund bis auf das Fleisch. Ich konnte ihm kaum die Handschuhe ausziehen.«
    »Wie schrecklich«, murmelte Kendra.
    »Ich kann nicht behaupten, dass ich stolz darauf bin, eingenickt zu sein«, sagte Dale. »Aber es hat mich gelehrt, ihn
niemals etwas unbeaufsichtigt tun zu lassen. Sobald man ihn mit etwas anfangen lässt, macht er einfach immer weiter, bis man ihn bremst.«
    »Ist es nicht gefährlich für ihn, hier zu sein?«, fragte Kendra. »Ich meine, mit all den Kreaturen im Wald?«
    »Die Hütte genießt den gleichen Schutz wie das Haus«, antwortete Dale. »Obwohl Kreaturen auf den Hof kommen können.«
    »Was ist, wenn er das Bad benutzen muss?«, wollte Seth wissen.
    Dale sah ihn an, als verstehe er die Frage nicht. »Oh, du meinst das Klohäuschen?«, sagte er schließlich. »In der Hütte gibt es inzwischen ebenfalls eine Toilette.«
    Dale ging weiter. Sie erreichten die Holzveranda vor der Hütte, und mit einem Schlüssel sperrte Dale die Vordertür auf. Die Hütte hatte einen großen, zentralen Raum mit einer Tür im hinteren Teil, die in einen weiteren Raum führte, und eine Leiter, über die man auf den Dachboden gelangte. An ein paar Haken neben der Eingangstür hingen ein Sombrero, ein Regenmantel und ein Stoffmantel. Ein langer Tisch beherrschte den Raum, und darum herum standen sechs Stühle. Links und rechts neben dem dunklen Kamin lag aufgeschichtetes Feuerholz. An einer Wand stand ein Bett, und unter den Decken lag ein Mann zusammengerollt, der ausdruckslos zur Tür hinüberstarrte.
    Dale ging auf Warren zu. »Du hast Besucher, Warren«, sagte Dale. »Du erinnerst dich sicher an Tanu. Und das sind Kendra und Seth Sørensen, zwei von Stans Enkelkindern.« Dale schlug die Decken zurück und bog die Beine seines Bruders gerade. Dann legte er Warren eine Hand hinter den Kopf, brachte ihn in eine sitzende Position und drehte ihn so, dass er auf der Bettkante saß. Warren trug ein orangefarbenes T-Shirt und graue Jogginghosen. Neben dem T-Shirt
wirkten seine Arme so weiß wie Milch. Als Dale seinen Bruder losließ, erwartete Kendra halb, Warren umkippen zu sehen, aber er blieb mit leerem Blick aufrecht sitzen.
    Er wirkte, als wäre er gerade eben in seinen Zwanzigern, mindestens zehn Jahre jünger als Dale. Und er sah selbst mit der blassen Haut, dem weißen Haar und den leeren Augen überraschend gut aus. Er war nicht ganz so groß wie sein Bruder, hatte breitere Schultern und ein markanteres Kinn. Seine Gesichtszüge waren feiner. Wenn Kendra nur Dale betrachtete, würde sie nie auf die Idee kommen, dass sein Bruder so attraktiv sein könnte. Und doch war, wenn man sie zusammen sah, die Familienähnlichkeit unverkennbar.
    »Hey, Warren«, sagte Seth.
    »Klopf ihm auf die Schulter«, schlug Dale vor. »Berührungen nimmt er eher wahr.«
    Seth tätschelte Warren. Keine Reaktion. Kendra fragte sich, ob Menschen sich nach einer Lobotomie so benahmen.
    »Ich glaube fest daran, dass er uns in irgendeinem Winkel seines Bewusstseins wahrnimmt«, sagte Dale. »Obwohl er nicht viel mitzubekommen scheint, vermute ich, dass er mehr aufnimmt, als es den Eindruck macht. Sobald man ihn allein lässt, rollt er sich zusammen wie ein Embryo. Wenn es aber zu laut wird, tut er es sofort.«
    »Ich habe bereits mehrere Dosen verschiedener Gefühle probiert«, bemerkte Tanu. »Ich hatte gehofft, dass irgendetwas den Nebel durchdringen könnte. Aber diese Art der Therapie scheint eine Sackgasse zu sein.«
    Sanft tätschelte Kendra seine Schulter. »Hey, Warren.« Warren drehte den Kopf und betrachtete ihre Hand. Ein kaum wahrnehmbares Lächeln stahl sich auf seine Lippen.
    »Seht euch das an!«, rief Dale beinahe.
    Kendra ließ ihre Hand auf Warrens Schulter liegen, und er starrte sie weiter an. Er lächelte nicht mit den Augen, sie
schienen immer noch weit fort zu sein, aber das Grinsen auf seinem Gesicht wurde immer breiter. Er hob eine Hand und legte sie auf Kendras.
    »Das ist die deutlichste Reaktion, die ich in all der Zeit beobachtet habe«, staunte Dale. »Leg die andere Hand auch auf seine Schulter.«
    Kendra stellte sich vor Warren und legte auch die andere Hand auf seine Schulter. Warren löste den Blick von ihrer Hand. Stattdessen sah er ihr jetzt ins Gesicht. Das Grinsen wirkte künstlich, aber für einen Augenblick glaubte Kendra, ein Flackern von Leben in seinen

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