Die Gesellschaft des Abendsterns
in ihr aufstieg. Wann immer sie von neuerlichen Schluchzern geschüttelt wurde, bemühte sie sich, möglichst leise zu weinen. Nach allem, was letzten Sommer geschehen war, wie nahe sie daran gewesen waren, alle das Leben zu verlieren, schien es nicht fair, dass der Tod Seth jetzt so plötzlich und unerwartet holte. Es war unvorstellbar, dass sie ihren Bruder nie wiedersehen würde.
»Könnte er noch leben und im Ganzen verschluckt worden sein?«, fragte Kendra leise.
Niemand wollte ihr in die Augen sehen. »Wenn der Dämon ihn verschlungen hat, ist er nicht mehr«, sagte Opa sanft. »Wir werden der Sache einen Tag Zeit geben. Wenn Ollock Seth verschlungen hat, müsste er langsamer werden und wieder in Schlaf verfallen, bis ein anderer den Fehler begeht, ihn zu füttern. Ich will keine falschen Hoffnungen schüren, aber wir wissen nicht mit Bestimmtheit, dass Ollock Seth verspeist hat, bis wir den Dämon schlafend auffinden.«
»Sollten wir nicht früher mit der Suche anfangen?«, fragte
Kendra und wischte sich über die Augen. »Was ist, wenn Seth noch dort draußen ist und auf der Flucht?«
»Er ist nicht auf der Flucht«, erwiderte Tanu. »Glaub mir, ich habe alles abgesucht. Bestenfalls könnte er in dem Hain einen Platz gefunden haben, um sich zu verstecken.«
»Was unwahrscheinlich ist, wenn der Dämon gekommen und wieder gegangen ist«, sagte Oma traurig.
»Können wir aus Coulter etwas herausholen?«, fragte Kendra.
»Er reagiert ebenso wenig wie Warren«, antwortete Dale. »Willst du ausprobieren, ob er auf dich reagiert, Kendra?«
Kendra presste die Lippen zusammen. Der Gedanke, auch nur in Coulters Nähe zu sein, war widerwärtig. Er hatte ihren Bruder getötet. Und jetzt hatte er wie Warren den Verstand verloren. Aber wenn eine Chance bestand, dass er etwas Nützliches mitteilen konnte, musste sie es versuchen.
Kendra kletterte auf das Verandageländer und ließ sich hinunter auf die Grasfläche gleiten. »Hugo, stell Coulter hin«, befahl Dale.
Hugo gehorchte. Coulter stand reglos da und wirkte noch kleiner und zerbrechlicher, jetzt, da er ein Albino und vollkommen erstarrt war. Kendra legte eine Hand auf seinen weißen Hals. Coulter neigte den Kopf und sah ihr in die Augen. Seine Lippen zitterten.
»Wir haben Warren nie dazu bekommen, etwas zu sagen«, bemerkte Kendra.
»Versuch, ihn etwas zu fragen«, forderte Vanessa sie auf.
Kendra umfasste Coulters Gesicht mit beiden Händen und starrte ihm in die Augen. »Coulter, was ist mit Seth passiert? Wo ist er?«
Coulter blinzelte zweimal. Seine Mundwinkel zuckten in die Höhe wie zu einem Lächeln. Kendra stieß ihn von sich.
»Er scheint auch noch glücklich zu sein, über das, was passiert ist«, schimpfte sie.
»Ich bin mir nicht sicher, dass du zu ihm durchgedrungen bist«, sagte Dale. »Ich denke, ihm hat einfach deine Berührung gefallen.«
Kendra sah zu dem Golem auf. »Armer Hugo. Können wir das mit seinem Arm in Ordnung bringen?«
»Golems sind sehr widerstandsfähig«, sagte Opa. »Sie werfen regelmäßig Materie ab und sammeln neue. Im Laufe der Zeit wird ihm ein neuer Arm wachsen. Kendra, vielleicht solltest du nach drinnen gehen und dich hinlegen.«
»Ich glaube nicht, dass ich schlafen kann«, stöhnte Kendra.
»Ich könnte ihr ein schwaches Beruhigungsmittel geben«, erbot sich Vanessa.
»Das ist vielleicht gar keine schlechte Idee«, meinte Oma.
Kendra dachte darüber nach. Die Vorstellung, einzuschlafen und all das Leid vorübergehend hinter sich zu lassen, war reizvoll. Sie war nicht müde, aber sie war erschöpft. »In Ordnung.«
Vanessa legte Kendra stützend einen Arm um die Hüfte und führte sie zurück ins Haus. In der Küche setzte Vanessa einen Wasserkessel auf. Dann verließ sie den Raum und kam mit einem Teebeutel zurück.
Kendra saß am Tisch und spielte geistesabwesend mit einem Salzstreuer herum. »Seth ist wirklich tot, oder?«
»Es sieht nicht gut aus«, gab Vanessa zu.
»Ich hätte mir nie träumen lassen, dass so etwas passieren würde. Es begann gerade, sich anzufühlen wie ein wunderbares Spiel.«
»Es kann wunderbar sein, aber es ist definitiv kein Spiel. Magische Kreaturen können tödlich sein. Ich habe mehrere Menschen, die ich liebte, an sie verloren.«
»Er hat solche Dinge ständig herausgefordert«, sagte Kendra. »Immer auf der Suche nach Risiken.«
»Das war nicht Seths Schuld. Wer weiß, welchen Druck Coulter auf ihn ausgeübt hat, um ihn wegzulocken?« Vanessa goss warmes Wasser
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