Die Gesellschaft des Abendsterns
zwischen seinen Backenzähnen flach.
Plötzlich fühlte Seth, wie seine Zunge sich aufblähte. Es war, als hätte sie sich plötzlich in einen Airbag verwandelt, der aus seinem Mund herausexplodierte. Dann schien sich seine aufgeblähte Zunge von innen nach außen zu stülpen und ihn zu umschlingen. Die fürchterliche Szene vor seinen Augen verschwand. Er war in vollkommene Dunkelheit gehüllt. Zum ersten Mal, seit er begonnen hatte, sie zu spüren, war die überwältigende Angst erheblich geringer geworden.
Er konnte sich wieder bewegen. Er befand sich in schwammiger Dunkelheit, vollkommen umschlossen von irgendetwas. Seth berührte seine Zunge. Sie war unverändert. Normal. Sie war gar nicht zu einem Ballon angeschwollen; es musste dieses Ding gewesen sein, das Coulter ihm in den Mund geschoben hatte. Der Kokon! Das war die einzige Erklärung! Irgendwie hatte Coulter die Kraft gefunden, Seth seine »Lebensversicherung« in den Mund zu schieben. Seth drückte gegen die genauso beengenden wie behaglichen Wände. Sie fühlten sich weich an, aber je kräftiger er dagegendrückte, desto weniger gaben sie nach. Coulter zufolge konnte ihm jetzt nichts mehr etwas anhaben. Er konnte monatelang überleben.
Coulter! Der alte Mann hatte sich für ihn geopfert! Obwohl sie jetzt gedämpft war, konnte Seth dennoch spüren, wie die Angst immer noch stärker wurde. Irgendwo jenseits dieses Kokons, der ihn umschloss, näherte sich das Geschöpf Coulter. Selbst er musste inzwischen gelähmt vor Entsetzen sein, ganz gleich, wie resistent er gegen die erdrückende
Angst war. Es schien, als hätte er seine letzte Kraft verbraucht, um Seth den Kokon zu geben.
Seth untersuchte den Gegenstand, den Coulter ihm in die Hand gedrückt hatte. Es war kein Taschentuch; es war ein Handschuh ohne Fingerspitzen, vermutlich der Handschuh, der Coulter unsichtbar machte. Innerhalb des Kokons würde er ihm nicht viel nützen, aber sollte Seth jemals wieder hier herauskommen, wäre er bestimmt eine Hilfe.
Seth drückte den Handschuh zusammen. Es konnte nur einen einzigen Grund dafür geben, dass Coulter ihn ihm überlassen hatte. Der ältere Mann erwartete nicht, das hier zu überleben.
Coulter begann zu schreien. Obwohl der Kokon die Geräusche dämpfte, hatte Seth noch nie einen so hemmungslosen Ausbruch puren Entsetzens gehört. Seth widerstand dem Impuls, den Kokon in Stücke zu reißen. Er wollte helfen, aber was konnte er schon tun? Coulter schrie nicht lange.
Opa saß auf der Kante seiner Pritsche, umringt von Vanessa, Dale, Tanu, Oma und Kendra. Seine Haare standen auf eine Weise zu Berge, wie Kendra es noch nie gesehen hatte. Doch seine harten Augen waren nicht schläfrig.
»Der Verräter ist demaskiert«, sagt Opa, als spreche er mit sich selbst.
»Nicht Coulter«, widersprach Oma ungläubig.
»Sie sind fort«, stellte Tanu fest. »Beide haben ihre Ausrüstung mitgenommen. Den Spuren nach sieht es so aus, als hätte Hugo sie getragen.«
»Kannst du ihnen folgen?«, fragte Opa.
»Kein Problem«, antwortete Tanu. »Aber sie haben einen guten Vorsprung, und Hugo ist nicht langsam.«
»Was, denkst du, führt er im Schilde?«, fragte Vanessa.
Opa warf einen besorgten Blick auf Kendra. »Darüber werden wir später reden.«
»Nein«, sagte Kendra. »Nur zu. Wir müssen uns beeilen.«
»Coulter fehlt ein entscheidender Gegenstand, um die versteckte Reliquie zu finden«, erklärte Opa. »Richtig?«
Oma nickte. »Den haben wir noch immer in unserem Besitz.«
»Ich kann mir nur vorstellen, dass er irgendeinen Grund hat, Seth Ollock zu übergeben«, fuhr Opa fort. »Sein Vorgehen kommt mir nicht besonders strategisch vor, was Coulter gar nicht ähnlich sieht. Vielleicht weiß er etwas, das wir nicht wissen.«
»Die Zeit rinnt uns durch die Finger«, bemerkte Dale.
»Richtig«, pflichtete Opa ihm bei. »Dale, Vanessa, Tanu, findet heraus, wohin Coulter Seth gebracht habt. Holt Seth und Hugo zurück.«
Die drei liefen aus dem Raum. Kendra hörte sie durchs Haus stapfen, während sie ihre Ausrüstung zusammensuchten. Benommen und reglos stand sie da. Geschah dies alles wirklich? War ihr Bruder wirklich fort, entführt von einem Verräter? Würde Coulter ihn wirklich an Ollock verfüttern? Oder hatte Coulter etwas im Sinn, das sie nicht vorhersehen konnten?
Seth war vielleicht bereits tot. Ihr Verstand schreckte vor dem Gedanken zurück. Nein, er musste am Leben sein. Tanu, Vanessa und Dale würden ihn retten. Solange sie noch
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