Die Gesichtslosen - Fey, S: Gesichtslosen
Doch Ernst Köster, der neue Staatssekretär, erklärte, wenn sein Amtsvorgänger mit ihr zufrieden gewesen war, dann würde er es ebenfalls sein. Sie konnte es nicht glauben, spendierte den Großraum-Sekretärinnen einen Likör und war schockiert, als sie den ersten Zettel fand. Mit einem schwachen roten Farbband auf gelblichem Papier, wie es alle Büros verwendeten, waren in die Mitte eines DIN A4-Blattes schweinische Wörter getippt. Am nächsten Tag lag ein zweiter in ihrem Kalender. Dann drei Tage nichts. Sie begann es fast zu vergessen, entdeckte jedoch Anfang der nächsten Woche etwas Gelbes zwischen der Morgenpost. Frau Bähringer, die Geschäftsführerin kam dazu und lachte. Jede Chefsekretärin habe so was gekriegt, erklärte sie, nur seien ihre damals auf popelgrünem Papier gewesen. Neid sei immer noch die ehrlichste Form der Anerkennung. Sie sollte sich einfach freuen, dass sie erreicht hatte, wovon andere träumten, und die Botschaften ignorieren, dann würde es schon aufhören. Rosa folgte ihrem Rat und warf die Zettel wie Werbepost ungelesen weg, bis endlich keine mehr kamen. Julia warb weiter um ihre Freundschaft, fing sogar an, sich wie Rosa zu kleiden. Ihr Stil war auch nicht schwer zu imitieren. Sie besaß nur wenige teure Einzelstücke, trug meist weite Marlenehosen und enge Blusen in Grau, Blau oder Pflaume. Auch ihre Frisur ahmte Julia nach. Wenn Rosa ihr morgens mit hochgesteckten Haaren im Aufzug begegnete, hatte Julia spätestens mittags ihre Haare ebenfalls aufgesteckt. Neuerdings trug sie sogar eine Brille.
»Bestimmt aus Fensterglas«, spotteten die Kolleginnen, als Julia wieder einen Vorwand gefunden hatte, eine Akte persönlich ins Staatssekretariat zu bringen. »Achtung, Rosa die Zweite ist im Anmarsch.«
Endlich hatte sie Julias Drängen nachgegeben und ging mit ihr aus. Bei einem gemeinsamen Abend wollte sie sie geradeheraus fragen, ob sie hinter den Gemeinheiten wie Kösterschlampe oder Aufwärtsfickerin gesteckt hatte.
Im Lehmann’s am Hofgarten kam es aber dann zu keinem vertraulichen Gespräch. An der Bar drängte sich ein Kerl zwischen sie und Julia und hüllte Rosa in eine Schweißwolke, als er näher rückte. Vergeblich zupfte er an seinen Haaren, um einen fleischigen Fleck hinter einem Ohr zu verdecken. Eine schorfige Stelle oder eine Brandnarbe? Rosa rutschte mit dem Barhocker weg, kippte zur Seite und wurde von einem aufgefangen, dessen lange Nase und engstehende Augen sie an einen Löwen erinnerten.
»Hoppla, was fällt mir denn da Hübsches in die Arme.« Der andere duftete nach etwas zu viel Rasierwasser und entschuldigte sich für seinen beschwipsten Freund. Sie seien nur für ein paar Tage in München. Er behauptete in breitestem Sächsisch, sie kämen aus Ostbayern. Es klang wie Ustbajann. Das sei aber sehr weit im Osten, lachte sie, fühlte sich wie aus dem Schlamm ans Licht gezogen. In den folgenden zwei Jahren brachte er sie noch oft zum Lachen. Fjodor oder Fabian oder ein anderes Alias mit F, wie er sich in seinen zahlreichen Pässen nannte. Felix, der Glückliche, gefiel ihr am besten.
Kannten sie sich wirklich schon so lange? In der U-Bahn bat sie eine Dicke mit Strickzeug, die Taschen vom einzigen freien Platz zu nehmen. Auch wenn es nur zwei Haltestellen bis zum Hauptbahnhof waren, musste Rosa sich setzen. Sie schlüpfte aus den Schuhen und lehnte sich zurück. Oft hatte sie nicht gewusst, wie sie die Tage bis zum nächsten Wiedersehen hinter sich bringen sollte. Sie schloss die Augen und stellte sich vor, wie Felix reagieren würde, wenn sie ihm gleich ihre ganz persönliche Nachricht überbrachte, die nur für ihn allein und nicht für seine Vorgesetzten bestimmt war. Würde er die auch so streng bewerten wie alle Informationen aus dem Ministerium, die sie ihm lieferte? Sehr gut oder gut oder nur befriedigend? Egal welchen Wisch sie ihm brachte, die Noten der Stasi fielen schlecht aus. Meistens hatte sie für die unter Angstschweiß geschmuggelten Unterlagen nur ein »ausreichend« bekommen. Natürlich hatte Felix ihr beigebracht, auf was sie achten sollte. Trotzdem war es schwer, in dem ganzen Geschwafel eine bedeutsame Botschaft zu entdecken.
Deshalb interessierte sie sich auch nicht mehr für den Inhalt der Dokumente, sondern kopierte und fotografierte einfach alles doppelt und dreifach, wenn es sein musste. Ob codiert, getippt oder handschriftlich. Lieber einmal zu viel als zu wenig. Die Fotos konnten verwackelt sein, die Kopien aufweichen.
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