Die Gesichtslosen - Fey, S: Gesichtslosen
Anfangs hatte sie mit zitterndem Finger auf den Auslöser gedrückt, überzeugt, nicht ein einziges Bild zu schaffen, bevor jemand sie vor dem offenen Safe erwischte. Nach und nach war sie gelassener geworden. Die Papiere aus dem Safe legte sie unauffällig zwischen die Mappen mit ihrer täglichen Routinearbeit und lichtete alles in Ruhe in ihrem Büro ab. Ein unachtsamer Moment, ein offen stehender Schrank, eine herausgefallene Notiz. Die Stasi rechnete mit dem Menschen in jedem Politiker, der dann zum Vorschein kam, wenn man bereits an den Feierabend dachte und die Konzentration nachließ. Da könne sie ihre Noten aufbessern, versprach ihr Felix. Heute war ihr ein Sahnehäubchen in die Hände gefallen, jedenfalls glaubte sie das. Ob es für Felix interessant war, würde sich zeigen.
Gerade als Rosa nämlich hatte gehen wollen, rief Köster sie zum Diktat und musste vorher noch zum Innenminister. Sie ärgerte sich, saß ausgehfertig mit Jacke und Handtasche in seinem Büro, den Stenoblock auf dem Schoß, wie auf Kohlen. Wo blieb der Staatssekretär nur? Aus der obersten Schreibtischschublade, die sonst verschlossen war, sah sie einen gelben Zettel ragen. Bekam Köster etwa auch solche Beschimpfungen? Sie zog die Schublade auf. Schlampig in eine Mappe geschoben, lag eine Zeichnung darin. Der Querschnitt einer Straße. Auf dem Bürgersteig stand ein Fahrrad, perspektivisch von hinten gezeichnet. Ihr Chef konnte nur Strichmännchen mit Knubbelknien, die er beim Telefonieren auf Zettel krakelte. Demnach hatte er das nicht gezeichnet. Das Fahrrad war an einen Pfosten gebunden, von dem führten durch das Auto gestrichelte Linien zu einem zweiten Pfosten. Vielleicht war es einfach eine angefangene Skizze zu einem Bauplan mit Fahrradständern. Auf der Frontscheibe eines breiten Autos hatte jemand A.H. geschrieben. Bestimmt ging es darin wieder um irgendwelche Sicherheitsfragen, alles drehte sich immer nur darum. Der Wandel in Ostdeutschland beunruhigte die Politiker. Egal, Felix hatte ihr eingeschärft, nichts zu bewerten, einfach nur zu sammeln. Sie packte die Mappe, hastete zum Kopierer im Vorzimmer, legte den Stapel Dokumente auf den Selbsteinzug und drückte auf Start. Wenn der Staatssekretär jetzt zurückkäme, müsste sie sich eine Ausrede einfallen lassen. Zum Glück hatte sie daran gedacht, zu Hause noch einen neuen Film in die Kamera einzulegen. In der Eile wäre ihr das Gefummel mit der winzigen Filmrolle nicht so schnell gelungen. Während ein Blatt nach dem anderen im Kopierer verschwand, knipste sie die Akte. Noch immer roch die Minox leicht faulig. Obwohl sie das Parfüm im oberen Teil der Kamera gegen ihren Lieblingsduft Octave getauscht hatte, hatte sich der Geruch nach modrigen Friedhofsblumen, der Rest des DDR -Parfüms, darin festgesetzt.
Schritte auf dem Parkett. Der Staatssekretär kam zurück. Mist, das Fach fürs Kopierpapier war leer. Nur noch ein Dokument, ausgerechnet die Zeichnung. Sie drehte einfach die letzte Kopie um und schob sie in den Selbsteinzug des Kopierers. Hastig ordnete sie alles wieder, rannte ins Büro zurück und verstaute die Mappe wieder an ihrem Platz im Schreibtisch des Staatssekretärs. Noch ein paar Sekunden. Schnell, sie musste die Zeichnung noch fotografieren. Das Parfümfläschchen auf das oberste Blatt in der Mappe gerichtet, knipste sie die Zeichnung aus sämtlichen Blickwinkeln. Hoffentlich verwackelte sie nichts. Mit einem Schwung ihres Hinterns schob Rosa die Schublade zu – gerade als Köster durch die Tür trat. Mit angehaltenem Atem sprühte sie sich etwas Parfüm auf.
Der Staatssekretär schnüffelte, rümpfte leicht die Nase. »Chanel No. 5 ist das nicht, oder?« Er tätschelte ihr den Arm. »Entschuldigen Sie, Frau Salbeck. Ich verspreche, Sie nur noch ganz kurz aufzuhalten.« Er trat ans Fenster, die Hände in den Hosentaschen, wie immer, wenn er diktierte.
Mit klopfendem Herzen stenografierte sie, schielte auf die Schublade. Der gelbe Zettel lugte noch genauso hervor, doch der Schlüssel wackelte. Köster verlor sich in Phrasen, die Rosa vorhersagen konnte, so oft hatte sie sie schon in Briefe verwandelt. Der Terror der dritten Generation, was auch immer das sein sollte, war sein neuer Lieblingsbegriff.
»Nächster Halt Hauptbahnhof.« Das Dröhnen aus den Lautsprechern riss Rosa aus ihren Gedanken. Alle Fahrgäste drängten hinaus.
»Geht’s?« Ein Mann stützte sie, als sie beim Aufstehen schwankte. Sie nickte und ließ sich von der Menge die Treppe
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