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Die Gesichtslosen - Fey, S: Gesichtslosen

Die Gesichtslosen - Fey, S: Gesichtslosen

Titel: Die Gesichtslosen - Fey, S: Gesichtslosen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stephanie Fey
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wie sie ausgesehen hat. Außerdem können wir sie den Angehörigen so nicht präsentieren.« Zum ersten Mal berührte sie Carinas Hand. »Willkommen im Team. Bringen Sie das wieder nach oben.« Sie deutete auf die Fingerbeere, die noch immer am Daumen über Carinas Handschuh hing. »Ich wünschte, mein Vater hätte sich so für mich ins Zeug gelegt.«
    Carina wusste nicht, was sie sagen sollte. Ein eigener Arbeitsraum. Der erste Auftrag für eine Gesichtsrekonstruktion. »Unter einer Bedingung«, rief sie ihrer Chefin hinterher, als sie aus ihrer Starre erwachte. Die Professorin blieb stehen und seufzte. »Was denn noch?«
    »Ich will vorher keine Fotos vermisster Mädchen sehen, erst nach der Rekonstruktion.«
    »Paula?« Ein junger Mann sprang mehrere Stufen auf einmal nehmend die Treppe herunter.
    »Ihr Sohn?«, fragte Carina.
    »Äh, nein.« Plötzlich schien die Professorin verlegen. »Mein Physiotherapeut, Friedrich Hickl.« Ihr Gesicht hatte rote Flecken bekommen. »Dann haben wir vorerst ja alles. Beenden Sie mit Dr. Herzog die Leichenöffnung, ich bin … in meinem Büro.« Hickl begann schon mit seiner Arbeit und kraulte Feininger den Rücken, die leise gurrte, als sie im Aufzug verschwanden.

19.
    »Das mit der Nachfolge muss sich hier jeder ab und zu mal anhören«, sagte Herzog, schraubte hastig einen Flachmann zu und ließ ihn in seiner Kitteltasche verschwinden, als Carina in den Seziersaal zurückkehrte. »Torschlusspanik kurz vor der Pension. Nur bei mir weiß sie, dass ich eher in die Chirurgie wechseln würde.«
    »Was war mit der Chefin vorhin, ein Schwächeanfall?«, fragte Carina und asservierte die Fingerbeere in einer Tüte.
    »Ihre Schwester starb als junges Mädchen, aber Genaueres weiß ich nicht, nur Gerüchte.«
    Die Schwester, dachte Carina, das untrennbare Band, selbst im Tod noch. Sie griff zum großen Parenchymmesser, schnitt die Leiche vom Hals bis zur Hüfte auf und klappte die mumifizierte Haut vorsichtig auseinander. Wie zu erwarten, waren die inneren Organe vertrocknet. Die Gedärme glichen einer dünnen Perlenschnur, und der Rest eines Eierstocks bestätigte endgültig, dass es sich um eine junge Frau handelte. Herzog durchtrennte die Rippen, dann das Brustbein und entnahm das Herz, das nur noch so groß wie eine Kirsche war. Es wog achtzig Gramm. Er notierte das Gewicht auf der Tafel. »Was war mit der mexikanischen Kinderleiche im Kamin, erzählen Sie mal«, forderte er sie auf.
    »In Tepoztlán, einer Stadt südlich von Mexiko-City, mit einer auf zweitausend Metern liegenden aztekischen Pyramide, hat ein Ofensetzer den kleinen, rußgeschwärzten Leichnam gefunden. Er wollte den Kachelofen in einem Abrisshaus abbauen, und der Körper versperrte den Abzug. Vermutlich hat sich das Mädchen beim Spielen im Kamin versteckt. Ich habe das Gesicht rekonstruiert. Meine Skulptur glich der dreijährigen Tochter des Bürgermeisters, die seit einem Jahr vermisst wurde. Man hatte an Entführung geglaubt und vermutet, die Drogenmafia würde dahinterstecken, dabei war es ein Unfall, wie die Obduktion ergab. Inés, so hieß das Mädchen, hatte das vordere Gummiteil ihres Schnullers abgebissen und verschluckt. Ihr Kehldeckel war verschlossen, sie ist erstickt.«
    Herzog war der Erste, dem sie davon erzählte. »Gibt’s die Skulptur noch irgendwo?«
    Carina schüttelte den Kopf. »Ich rekonstruiere auf dem Originalschädel, fotografiere den Kopf und zerstöre ihn dann wieder. Aber der Bürgermeister hat sie am Día de los Muertos , am Tag der Toten, bei uns Allerheiligen, ausgestellt, so kam das Ganze dann auch in die Zeitung. An dem Tag wird den Ahnen der Weg vom Friedhof zu den Häusern der Verwandten bereitet. Ringelblumen werden gestreut und Laternen aufgestellt, man backt Anisbrot und verziert es mit Totensymbolen. Es gibt Totenköpfe aus Zucker und allerlei Skelettspielzeug für die Kinder; in Mexiko ist das ein Volksfest.« Sie schwieg, als ihr der Schmerz von ganz Tepoztlán in den Sinn kam. Wie bei einer Prozession waren die Einheimischen zu der Rekonstruktion gepilgert und hatten bei ihrem Anblick geweint. Seither hieß Carina nur noch la urraca , weil sie die Seele der kleinen Inés ans Licht gebracht hatte. All dies verschloss Carina lieber in sich, das musste sie keinem erzählen. Sie konzentrierte sich wieder auf die Spielplatztote.
    Die Leichenöffnung bestätigte die Todesursache. Die junge Frau war erwürgt worden. Herzog verabschiedete sich gegen dreizehn Uhr zu seiner

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