Die Gesichtslosen - Fey, S: Gesichtslosen
Nachmittagsschicht in die Poliklinik, und Carinas Gedanken schweiften zu ihrem neuen Arbeitsraum. Sie freute sich darauf. Eine eigene Werkstatt. Ein bisschen fühlte es sich an, als hätte sie von der Kunstakademie ein Atelier zugeteilt bekommen. Auch wenn Feininger sie vielleicht nur abschieben wollte, durfte sie nun tun, was sie wollte, in Ruhe und allein.
Beim Büro der Chefin blieb sie stehen. Ein Stöhnen drang durch die Tür. Machte die Erinnerung an ihre tote Schwester ihr so sehr zu schaffen? Carina klopfte und trat ein. Bei dem, was sie sah, wäre ihr fast der Schädel unterm Arm weggerutscht. Zwei ineinander verschlungene Körper, ein haariger, drahtiger presste sich in einen massigen, weißen. Hickl und Feininger. Leise zog Carina die Tür wieder zu, doch in letzter Sekunde traf sie ein Blick aus Paulas halbgeöffneten Lidern.
Willkommen, Elster, in deinem Totenreich, dachte Carina und skizzierte schnell das eben Gesehene, verbannte damit das Bild aus ihrem Kopf aufs Papier. Die Professorin und ihr Physiotherapeut. Dann begutachtete sie den Raum. Überall standen alte Geräte herum, ein Plastikskelett, ein Kartenständer. Das musste alles weg und stattdessen ein Schreibtisch in die Mitte – sie brauchte Platz, damit sie um die Skulptur herumgehen konnte. Und sie musste sofort mit der Rekonstruktion beginnen. Die hatte Vorrang. Erst in den nächsten Tagen würde sie hier ausräumen. Sie brühte sich einen Pulverkaffee auf und bestellte bei einer Firma einen Satz Glasaugen, sechs Stück in einer Schachtel zur Auswahl. Danach suchte sie im Internet die Telefonnummer des Münchner Tiernotrufs heraus, wählte und fragte nach Clemens. Der Drang, ihn anzurufen, hatte nichts mit der erotischen Skizze zu tun, an der sie weiterkritzelte, bis sie verbunden wurde, redete sie sich ein. Sie wollte ihn rein beruflich wiedersehen. Auch wenn das Lindenblatt, das ihm aus den Haaren gefallen war, inzwischen hinten im Skizzenbuch klebte.
Die Frau in der Leitung kannte keinen Clemens.
Carina stutzte. Seinen Nachnamen wusste sie nicht. Wer hatte ihn eigentlich bei Eva Bretschneiders Wohnung verständigt? Sie konnte natürlich ihren Vater fragen, aber was wurde dann aus ihrem neuen, unabhängigen Leben? Nein, es musste auch so gehen. »Die Polizei hat ihn zu einem Tatort gerufen, bei einer Schwerverletzten war ein Hund eingesperrt«, erklärte Carina.
»Ach so, das ist was anderes. Da sind Sie hier falsch. Wir helfen verletzten, in Not geratenen Tieren. Versuchen Sie es beim Veterinäramt.« Die Frau gab ihr die Nummer. Dort wiederholte Carina ihr Anliegen und wurde mit einem Dr. Schäfer verbunden.
»Ja?« Er klang reserviert.
»Äh, passt es gerade?« Was redete sie da, er wäre wohl nicht ans Telefon gegangen, wenn er keine Zeit hätte.
»Was gibt’s?«
»Gib’s, gib’s ihr«, äffte ihn jemand im Hintergrund nach.
»Dein Kollege?«
Clemens lachte, und Carinas Anspannung löste sich. »Luigi, unser Amtskakadu«, sagte er. »Er sieht vornehm aus, so ganz in Weiß, plappert aber wie ein Flohmarkthändler.«
»Ich wollte dich zu einem Experiment einladen.«
»Um was geht’s?« Er klang wieder förmlich. Was hatte sie erwartet, einen Jubelschrei? Vielleicht war es keine gute Idee, ihn dazuzubitten, obendrein ohne Erlaubnis der Chefin.
»Bist du noch dran? Entschuldige, aber hier ist es gerade etwas hektisch.«
»Ist nicht so wichtig, ich ruf später nochmal an.« Sie wollte schon auflegen.
»Nein, jetzt bin ich neugierig geworden, sag schon.«
»Kannst du morgen um zehn beim Tierheim sein? Ich hab da was vor.« Schnell schlug sie das Skizzenbuch zu, um jeden Gedanken an andere Vorhaben zu verbannen.
Auf dem Heimweg ging sie durchs Sendlinger Tor bis zum Perückengeschäft am Rindermarkt. Die Abendsonne schien. Die steinernen Rinder und die Bänke auf dem kleinen gepflasterten Platz glänzten noch vom Regen. Neben dem Eingang hingen Dankesbriefe um einen goldenen Spiegel gruppiert, betitelt mit Mein neues Leben . Darauf das Foto einer alten Frau mit einer wallenden Blondmähne. Der Verkäufer, der selbst eine bläulich schimmernde Haarpracht trug, fragte sie, ob er ihr helfen könne. Vielleicht war hier das Perückentragen Pflicht für die Angestellten, so wie beim Optiker das Tragen einer Brille. Sollte sie einfach sagen, dass sie Haare für eine Tote suchte? Sie zeigte ihm die Skizzen der kahlen Gesichtsrekonstruktion.
»Kriminalpolizei?«, fragte er.
»Rechtsmedizin.«
»Wie aufregend.« Er geriet
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