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Die Gesichtslosen - Fey, S: Gesichtslosen

Die Gesichtslosen - Fey, S: Gesichtslosen

Titel: Die Gesichtslosen - Fey, S: Gesichtslosen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stephanie Fey
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Würde er sich freuen, ihren gemeinsamen Sohn kennenzulernen? Sieben Jahre lang hatte sie solche Gedanken nicht zugelassen, nun waren sie da und fühlten sich richtig an. Dass sie die ganze Zeit über nicht verhaftet worden war, hieß auch, dass Felix sie nicht verraten hatte. Bestimmt sehnte er sich auch nach ihr und wusste vielleicht nicht, wie er jetzt wieder auf sie zugehen sollte.
    Wo war ihr Sohn überhaupt? Vor lauter Zeitunglesen und Spekulieren hatte sie ihn aus dem Blickfeld verloren. Sie sprang auf. Das Playmobilschiff kreiselte kieloben in einem Strudel. Sie rief nach ihm. Einige Meter vom Ufer entfernt entdeckte sie endlich seinen Haarschopf. Sie rannte ins Wasser, stolperte, sackte weg. Die Strömung hielt sie zurück, drängte sie ab. Sie stemmte sich dagegen, arbeitete sich Zentimeter um Zentimeter zu ihrem Sohn vor und schloss ihn in die Arme.

21.
    »Bist du sicher, dass du Doktor der Rechtsmedizin und erwachsen bist?«, fragte Clemens, als Carina über das rote Tor am Ostfriedhof kletterte. Sie stellte sich dabei um einiges geschickter an, blieb nicht, wie er, an den Eisenspitzen hängen und zerriss sich die Hose.
    »Zum Verarzten bei Lebenden reicht es auch noch«, lachte sie. »Hast du dir wehgetan?«
    »So gut kennen wir uns noch nicht, dass ich das zugeben würde«, flachste er. Der Anblick Hunderter rotglühender Grablichter in der Dunkelheit und die plötzliche Stille hinter dem Tor ließen sie verstummen. Carina versuchte sich zu orientieren. Vereinzelt tropfte es von den hohen Bäumen, die den Friedhof wie ein Dach umschlossen. Die Mauer verschluckte alle Stadtgeräusche. Sie spürte Clemens dicht neben sich.
    »Liegt hier … ein Verwandter von dir?«, flüsterte er. Sein Atem auf ihrer Haut fühlte sich warm an.
    Mit der Minilampe ihres Schlüsselbundes beleuchtete sie die Schautafel und suchte nach dem Abschnitt, den Luise Salbeck genannt hatte.
    Clemens erschrak, als es zu ihren Füßen raschelte. »Was war das?«
    Carina senkte den Lichtstrahl ins Gras. »Du bist doch der Tierarzt. Eine Maus, vielleicht eine Schlange – oder glaubst du etwa, ein Untoter gräbt sich zu uns durch?«
    »Diese Mutproben habe ich als Kind schon gehasst«, sagte er und drängte sich an sie.
    Na schön, dachte Carina, dann wusste sie ja, wie sie die Männer in Zukunft rumkriegte.
    Sie betrachtete wieder die Schautafel. Im Ostteil befanden sich die Urnenfelder, dicht an dicht, mehrere Reihen, wie Kindergräber, hintereinander. Links vom Krematorium begannen die Erdbestattungen.
    Als sie die richtige Parzelle entdeckt hatte, zog sie Clemens mit sich über den breiten Weg zum Krematorium. Er verschlang seine Finger mit den ihren. Bei einem Brunnen bog sie ab und ließ seine Hand los. »Ich suche Nummer hundertsiebenundvierzig.« Sie bückte sich, um den halb zugewachsenen Markierungsstein zu entziffern. i 22, dann, einen Abschnitt weiter, i 15. Wann begannen die Hunderter-Reihen? Blätter raschelten – oder waren es Schritte? Die S-Bahn fuhr hinter der Friedhofsmauer von der St.-Martin-Straße zum Ostbahnhof, dann war es wieder still. Totenstill. Sie musste sich getäuscht haben. Carina streckte sich und sog die Nachtluft ein. Im selben Moment stieg ihr ein Geruch in die Nase, der ihr blitzartig den Schweiß aus den Poren trieb und sie zugleich lähmte. Ihr Herz schlug so heftig, dass der Strahl aus der Minilampe schwankte. Sie schluckte. »Hallo?« Selbst ihre Stimme zitterte. Das waren doch Schritte. Etwa der Friedhofswärter? Wie sollte sie erklären, was sie hier taten? Sie zwang sich, in Richtung der Geräusche zu leuchten und zuckte zusammen, als der Lichtkegel jemanden erfasste. Clemens. Sie war erleichtert. Die Plastikhülle eines Grablichtes neben ihnen hatte Feuer gefangen und schmolz. Der Geruch erinnerte sie an den schmorenden Wagen, in dem sie gesteckt hatte. Sie zog Clemens weiter. Trotzdem, da schlurfte jemand heran. Langsam, Schritt für Schritt näherte sich eine Gestalt. Sie trug einen breiten Gegenstand und fuchtelte damit herum.
    »Verzeihung, wo ist der Brunnen?«, fragte jemand mit knorriger Stimme.
    »Der Wassergeist, der nicht mehr zurückfindet«, flüsterte Clemens. Carina leuchtete einer alten Frau mit Gießkanne ins Gesicht, die wider Erwarten nicht vor dem Licht zurückwich. Carina erkannte einen Moment später den Grund dafür: Ihre Augäpfel waren trüb. Wie war sie hereingekommen, oder war sie noch gar nicht nach Hause gegangen? Für eine Blinde spielte es keine Rolle, ob sie

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