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Die Gesichtslosen - Fey, S: Gesichtslosen

Die Gesichtslosen - Fey, S: Gesichtslosen

Titel: Die Gesichtslosen - Fey, S: Gesichtslosen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stephanie Fey
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Nachmittag seit langem. Lieber hätte Rosa sich ausgeruht. Schon bei dem Gedanken an ihr Bett fielen ihr die Augen zu. Unter der Dachkammer ohne Isolierung war es zwar brütend heiß, auch an den letzten Augusttagen noch, doch sie wollte sich nicht beklagen. Schon für nächstes Jahr hatten sie sich die Renovierung vorgenommen, ihre Schwester und sie. Dann würden sie dank der harten Arbeit, die sie beide leisteten, mit dem Restaurant aus den roten Zahlen sein. Statt kuschelig weicher Kissen stachen nun harte Steine durch die Picknickdecke. Außerdem hatte sie sich vom Bus bis zur Isar mit dem Rucksack voller Essen und Spielzeug abgeschleppt. Die ganzen Wochen über, seit der Kindergarten zu Ende war, hatte sich ihr Sohn auf diesen Ausflug gefreut. Lange genug hatte sie ihn vertröstet, bald waren die Ferien um, und er würde in die Schule kommen. Anfangs im Bus plapperte er wie nie, staunte über jeden Baukran, jedes Schaf auf der Weide, streichelte unerschrocken den großen Hund einer Mitreisenden. Seine kleine Hand schmiegte sich in ihre, als sie sich den Trampelpfad entlang durch hohe Büsche zur Isar durchkämpften.
    Am Ufer wich er nicht von ihrer Seite, zeigte ihr jeden Glitzerstein und jedes Schneckenhaus, das er entdeckte.
    »Mama, hier gibt’s Babyfische.« Zwischen den Kieselsteinen, wo die Strömung schwächer und das Wasser von der Sonne aufgeheizt war, schwammen winzige Fische, manche kaum zu sehen, andere so groß wie ein Kinderfinger. Er versuchte sie zu fangen, doch sie entwischten ihm mühelos. Aus Ästen und Steinen bauten sie gemeinsam einen Damm. Nach einer Weile stand ihr Sohn in kurzer Hose bis zu den Knien in der kalten Isar und lenkte sein Plastikschiff zwischen Damm und Ufer herum, murmelte vor sich hin, ganz in sein Spiel vertieft. Endlich konnte sie sich entspannen. Sie legte sich auf die Decke, starrte in den wolkenlosen Himmel, trank Kaffee und griff zur Zeitung, wie sie es sich schon so lange vorgenommen hatte. Jedes Mal, wenn sie die Zeitungen von den Tischen der Gäste räumte, träumte sie davon. An einem freien Sommertag würde auch sie einmal irgendwo sitzen und lesen. Nicht nur die Schlagzeilen überfliegen, sondern auch den Kulturteil und die Beilagen intensiv durchgehen. Doch in den letzten Jahren – waren es wirklich schon Jahre? – hatte sie diesen Traum nie in die Tat umgesetzt. Morgens, wenn sie das Besteck polierte, suchte sie nach neuen Artikeln im Fall Herrhausen. Es gab immer noch keine brauchbaren Spuren. Die Haftbefehle gegen mutmaßliche RAF -Mitglieder waren zurückgezogen worden. Sie wusste inzwischen mehr über das Leben und Sterben des Deutsche-Bank-Chefs, als sie je über Felix erfahren hatte. Beim Zahnarzt blätterte sie gelegentlich in einer Illustrierten, fühlte sich aber zugleich wie von einem anderen Stern, wenn sie die gestylten Prominenten sah. Seit sie Mutter war und als Kellnerin arbeitete, legte sie kaum noch Wert auf ihr Äußeres. Ohne es bewusst beschlossen zu haben, war sie zu einer anderen Rosa geworden, vielleicht zu der, die sich ihre Eltern immer gewünscht hatten.
    Ihr Vater wollte, dass sie eine Lehre in der Gastronomie machte. »Ihr gehört zusammen, du und Lou«, sagte er, wenn sie stritten, sich kratzten und bissen und Rosa ihrer Schwester wünschte, sie solle bei ihrem Schwimmtraining absaufen. »Ein Geschwisterband zerreißt nie«, betonte er und zerrte sie auseinander.
    Lou rebellierte gegen die Eltern, bis sie achtzehn war, wollte Profischwimmerin werden und weigerte sich, eine Hotelfachschule zu besuchen oder bei einem befreundeten Wirt in die Lehre zu gehen. Als sie nach einem halben Jahr Intensivtraining aus Hamburg zurückkehrte, glaubte Rosa, sie hätte ihre Schwester verloren. Keiner wusste, was dort geschehen war, außer dass ihr geliebter Motorroller gestohlen worden war. Den hatte sie sich von den Preisgeldern zusammengespart. Lou redete nicht über Hamburg, räumte wortlos ihre Medaillen weg, die sie seit der Grundschule eingeheimst hatte, und gab das Schwimmen auf. Einfach so. Rosa vermutete, dass es irgendwie mit dem Trainer zusammenhing, der sie sogar ins Olympiateam hatte bringen wollen. Dann starb ihre Mutter überraschend an Krebs, und Lou beugte sich dem Herzenswunsch des Vaters: Sie durchlief eine Betriebswirtschaftslehre. Nach Feierabend tüftelte sie im Keller an einer Miniatur-Vespa im Maßstab eins zu zehn herum. Dafür erbettelte sie vom Zahnarzt sogar zwei kleine Spiegel für den Lenker. Doch der kleine

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