Die Gesichtslosen - Fey, S: Gesichtslosen
Motorroller wurde nie fertig. Für wen oder warum sie ihn bastelte, verriet sie nicht. Vielleicht versuchte sie einfach den Verlust ihrer selbst zusammengesparten Vespa zu verarbeiten. Nur weil Rosa so gut in der Schule war, das Abitur machte und ihr ein Stammgast die Stelle beim Innenministerium verschaffte, duldete ihr Vater, dass sie eher wie ein Sonntagsgast und nicht wie die eigene Tochter einherstakste. Eine Schickimicki-Sekretärin, die mehr für den Frisör ausgab, als die Zutaten der Speisen für einen Tag im Restaurant kosteten.
Damals, auf dem Weg ins Ministerium, hatte sie in der U-Bahn gelesen, ein Buch sogar, Tschechow, »Die Dame mit dem Hündchen«. Das Buch war zusammen mit den anderen Sachen aus ihrem Zwei-Zimmer-Apartment im Keller gelandet. Wie ging die erste Zeile noch? Man erzählte sich, dass am Strande ein neuer Kurgast aufgetaucht sei: eine Dame mit einem Spitz …
Sie spießte ihrem Sohn ein Fleischpflanzerl auf einen Stock und reichte es ihm ins Wasser. Hoffentlich erkältete er sich nicht, seine Lippen waren schon blau. Sein Mund erinnerte sie an den Mund von … Nein, Schluss damit. Für den Kleinen hatte sie Ersatzsachen dabei, falls er nass wurde. Wenn sie nur daran dachte, was sie von anderen Müttern für Krankheitsgeschichten hörte. Ständig beim Arzt, das hätte sie sich gar nicht leisten können. Ihr Sohn war robust, selten krank und brav dazu, spielte nach dem Kindergarten im Park vor dem Restaurant, schlief auf der gepolsterten Bank zwischen den Gästen ein, bis sie ihn zum Schlafen nach oben in die Wohnung trug. Hoppla, jetzt hatte er das Fleischpflanzerl anstatt einem Stein geworfen und suchte es im Wasser. Die Strömung war nicht zu unterschätzen, sie musste ihn im Blick behalten. Schade, dass Lou ihrem Neffen nicht das Schwimmen beibringen wollte. Als Kleinkind hatten sie ihm zu zweit die Haare waschen müssen, leider hatte er von seiner Tante nicht die Leidenschaft fürs Wasser geerbt. Dabei verstanden sich die beiden, obwohl Lou strenger als Rosa war, sie immer ermahnte, wenn sie wieder Spielzeug kaufte. Aber wenn Rosa in seine Augen sah, die Felix’ Augen glichen, war sie verloren.
Kein Anruf, keine Postkarte, kein Brief, sie hatte nie wieder von ihm gehört. Als sie im Innenministerium kündigte, wollte sie ihm irgendwie noch eine Nachricht zukommen lassen. Doch dann besann sie sich. Ein Spion konnte jederzeit herausfinden, wo sie war – wenn er nur wollte. Und er betonte immer, je weniger sie von sich erzählte und er von ihr wusste, desto besser. Das hatte sie in der anfänglichen Verliebtheit nicht verstanden, erst als sie begriff, dass er alles an die Stasi weitergeben musste, hielt sie sich zurück. Seine Träume, seine Erlebnisse, seine Kindheit – sie bezweifelte, ob irgendetwas davon stimmte oder ob sie nur Teil seiner Legende waren, um deutsche Sekretärinnen in für die Stasi interessanten Positionen zu bezirzen.
Sie drehte sich auf den Bauch und blätterte die Zeitung auf. Auf Seite drei stand es: Westspionin Gabriele K. verhaftet . Rosa vertiefte sich mit klopfendem Herzen in den Artikel. Wegen Landesverrat und Weitergabe militärischer Geheimnisse war die Übersetzerin, die in der amerikanischen Botschaft gearbeitet hatte, zu zwei Jahren auf Bewährung verurteilt worden. Sogar ein psychiatrisches Gutachten hatte es gegeben, das ihr eine Neurose und allgemeine Labilität bescheinigte. Hieß das, auch Rosa konnte ohne Gefängnisstrafe davonkommen, wenn sie sie erwischten? Natürlich bekäme sie einen Eintrag ins Strafregister, und die Medien würden sie brandmarken. Musste sie dann ihren Namen ändern und umziehen? Wer sprach noch mit einer Spionin? Und mieden die Gäste dann das Lokal?
Die Anwerber, wie die Zeitung sie nannte, von der Stasi ausgebildete Topagenten, wie Felix einer war, gingen straffrei aus. Das Bundesverfassungsgericht hatte eine Amnestie erlassen, verfolgte DDR -Spione nicht wegen Hochverrats und versuchte auch nicht, sie aufzuspüren. Also war ihr Liebster frei. Ihr Liebster, zum ersten Mal nannte sie ihn wieder so bei sich. Warum galt der Straferlass nicht auch für West-Spioninnen, wie diese Gabriele K. und Rosa eine gewesen war? Wenn sie auch auf der Fahndungsliste des Bundeskriminalamtes stand und als Nächstes an die Reihe kam … Sie legte die Zeitung weg und verschränkte die Arme hinterm Kopf. Eine einzelne Wolke schwebte am hellblauen Himmel. Wie wäre es, mit ihrem Sohn in die ehemalige DDR zu reisen und Felix zu suchen?
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