Die Gesichtslosen - Fey, S: Gesichtslosen
trank sie einen Schluck kalt gewordenen Tee. Nicht der Präparator, sondern die Professorin steckte ihr breites Gesicht durch die Tür.
»Ich wollte mal sehen, wie weit Sie sind.«
Carina zögerte, sie einzulassen. Sie brauchte noch Zeit, nur ein grober Rohling war fertig, die Feinarbeit fehlte noch. Der Mund stand vor, weil der Aufbau der Oberlippe noch nicht erfolgt war, und die Nase glich eher einer zerdrückten Kartoffel als einem Riechorgan. Außerdem war das Kinn, von der Seite betrachtet, zu spitz geraten. Kurz, es fehlte alles, was man nicht berechnen konnte. Die Ohren, die Haare und der individuelle Ausdruck oder, um es in der Sprache der Elster zu sagen, der Glanz. So wie sie die Tote gesehen hatte, als sie unter die Plane auf dem Spielplatz gekrochen war. Dort hatte sich für sie das Bild einer jungen Frau über das Skelett gelegt, mit Fleisch, Haut und von Leben erfüllt.
Aber eher hätte man einem Mammut den Zutritt verweigert als Paula Feininger. Sie stapfte um den Schreibtisch herum, betrachtete die Gesichtsskulptur von allen Seiten. »La urraca , die Elster, jetzt verstehe ich Ihren Spitznamen. So was hätten wir mit dem Computerprogramm nie erreicht. Respekt, Frau Dr. Kyreleis.«
Seit einigen Jahren entwickelte das BKA ein Programm zur Gesichtsrekonstruktion. Das Problem war, dass dabei eine fotoähnliche Abbildung herauskam und der Laie dies für ein echtes Foto der vermissten Person hielt. Wenn es nicht hundertprozentig stimmte, waren die Chancen vertan. Bei einer Skulptur hingegen verstand der Betrachter, ähnlich wie bei einer Phantomzeichnung, dass es sich nur um eine Annäherung handelte – so könnte der Vermisste ausgesehen haben, von vorne, von hinten, von der Seite – , und ließ seine Vorstellungskraft frei spielen.
Paula Feininger räusperte sich. »Wegen gestern, das mit Hickl … «
Carina merkte, dass die Chefin nun zum eigentlichen Grund ihres Besuchs kam, und begriff. »Ach so, machen Sie sich da keine Gedanken. Ich bin stark kurzsichtig.« Sie rückte ihre Brille zurecht. »Über fünf Dioptrien, ich hab nicht viel gesehen.«
Die Chefin lächelte. »Danke, Sie haben was gut bei mir. Die Tote ist über den Zahnstatus der Vermisstenkartei identifiziert worden. Für morgen Nachmittag habe ich die Eltern des Mädchens ins Institut bestellt. Schaffen Sie es bis dahin mit der Skulptur?«
»Also … « Normalerweise brauchte Carina eine Woche für eine Gesichtsrekonstruktion. Wenn sie ausschließlich daran arbeitete, vielleicht drei Tage.
»Ich stelle Sie von den Obduktionen frei.«
Das war zwar ein gutes Angebot, aber später wollte Carina doch das Experiment mit Clemens durchführen, und war da nicht auch noch ein anderer Termin gewesen, der ihr gerade nicht einfiel? Am besten, sie arbeitete einfach die ganze Nacht durch.
»Ich habe gehört, dass Sie eine Frau gerettet haben, der ein Hund das Gesicht verstümmelt hat. Ich gratuliere.«
»Ob es der Hund war, ist nicht bewiesen.«
»Schreckliche Vorstellung, ich hab selbst einen Pekinesen, der schläft bei mir sogar im Bett.« Die Professorin zögerte einen Moment. »Na ja, wer könnte es Ihrer Meinung nach sonst gewesen sein?«
Carina verkniff sich ein Grinsen. »Sie wollen, dass ich eine Vermutung aufstelle?«
Feininger ignorierte ihre Anspielung, dass Rechtsmediziner Spekulationen außen vor zu lassen hatten. »Wie geht es der Frau denn?«
»Sie wollte sich umbringen, hat sich die rechte Pulsader aufgeschnitten und dazu Tabletten geschluckt. Während sie bewusstlos in ihrem Wohnzimmer lag, muss jemand versucht haben, ihr das Gesicht zu entfernen. Es konnte wieder angenäht werden.«
Carina packte die Gelegenheit beim Schopf. »Eva Bretschneider, so heißt die Verletzte, hat mich um ein Gutachten gebeten.«
»Bezahlt sie es auch?«
Carina nickte, froh, nicht erklären zu müssen, dass sie keinen flauschigen, glupschäugigen Pekinesen, sondern eine kniehohe Jagdhundmischung ins Institut bringen wollte.
»In Ordnung, aber die Rekonstruktion geht vor; dann erst kommt der Hund an die Reihe.«
Innerlich jubelte Carina, sie hatte die Zustimmung ihrer Chefin in der Tasche.
25.
Er liebte es, am alten Schleifstein mit Fußbetrieb, der von seinem Großvater stammte, die Messer zu schärfen. Hier im Kellergewölbe war es zwar auch im Sommer kalt und feucht, und er musste mehrere Schichten Pullover tragen, aber bei dieser Arbeit entspannte er sich jedes Mal. Beim gleichmäßigen Auf und Ab des Tretens und dem sirrenden
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