Die Gesichtslosen - Fey, S: Gesichtslosen
stick…«
Als er sah, was sie unter ihrem Schal verborgen hatte, zuckte er zusammen. Angewidert zog er das größte Messer heraus und stieß es ihr in die Brust. Mitten im Satz verstummte sie.
Fünfter Tag
Ach, wie gut ist, dass niemand weiß,
dass ich Rumpelstilzchen heiß!
Aus Grimms Märchen
32.
Auf Handtuch und Pullover, mehrmals von Sandros Tritten geweckt, der sich auf der Picknickdecke eng an sie drängte, erwachte Carina von einem Jaulen, das nach starken Zahnschmerzen klang. Gandhi heulte das Türschloss an. Es gab schon genug Pfützen in der Wohnung, Isomatte und Schlafsack von Sandros Malheur waren auch noch nicht trocken. Also rappelte sie sich im Halbschlaf auf. Schon im nächsten Moment durchfuhr sie der Gedanke an Wanda. Sie überprüfte ihr Handy, nichts, immer noch kein Anruf. Nach einer kurzen Runde um den Häuserblock kehrte Carina mit Sandro und einem erleichterten Hund samt voller Bäckertüte zurück. Sie frühstückten in der Fensternische. Bevor Carina ihren Neffen in den Kindergarten brachte, wollten sie nachsehen, ob Wanda inzwischen zurück war. Gandhi musste, mit Fressen und Wasser versorgt, allein bleiben. Mit dem Bus fuhren sie zur Entenbachstraße in der Au.
Nach mehrmaligem Klingeln bei ihrer Schwester öffnete Wandas Nachbarin ihre Tür, wie immer mit einer qualmenden Zigarette im Mundwinkel. »Da können Sie lange läuten.« Sie blies den Rauch mit der Unterlippe schräg an Carina und Sandro vorbei ins nächste Stockwerk hinauf. »Die ist gestern noch spät mit einem Kerl weg.«
»Wann war das?«, fragte Carina.
»So gegen elf, als ich von der Arbeit gekommen bin.«
Wo Frau Dornbeck nachts arbeitete, wusste Carina nicht. Sie passte manchmal auf Sandro auf, obwohl Wanda sie wegen der Kettenraucherei nicht als Babysitterin bevorzugte. »Wie hat der Mann ausgesehen?«
»Ach, das war ein ganz junger noch, Milchbart oder Halbstarker hätten wir zu meiner Zeit gesagt. Irgend so ein Musiker. Als das Treppenlicht ausgegangen ist, bin ich über seinen Kasten gestolpert. Und laut waren die, na ja, ich war auch mal jung.« Carina hoffte ihrem Neffen zuliebe, dass Frau Dornbeck die Sache mit der Lautstärke nicht noch näher ausführte.
Die Zigarette über ihren Kopf haltend beugte sich die Nachbarin zu Sandro hinunter. »Magst du ein Eis? Ich hab gestern eingekauft.«
Frühmorgens schon ein Eis, das war keine gute Idee.
»Über Dornbecks Balkon kann ich zu uns rüberklettern und nachschauen, ob Mama da ist«, schlug Sandro vor. »Das mache ich öfter.«
»Über das Geländer im dritten Stock?« Doch ihr Neffe war schon in die Wohnung geflitzt. »Meine Schwester hat sich nicht gemeldet, dürften wir nachsehen? Nicht dass sie vielleicht bewusstlos irgendwo liegt.« Ausgerechnet jetzt drängte sich die verletzte Eva Bretschneider in Carinas Erinnerung.
»Nur zu.« Frau Dornbeck ließ sie eintreten. Kalter Nikotingestank biss ihr in die Augen und tauchte Möbel und Vorhänge in hellgelben Dunst. Sandro schob gerade die Balkontür auf, schwang sich wie ein Stuntman auf das kleine Stück vorstehendes Geländer und sprang, ehe Carina noch zupacken konnte, auf den Balkon nebenan.
»Aber der Junge kommt ja nicht rein, wenn drüben die Balkontür von innen zu ist.« Frau Dornbeck stand hinter ihr, eine neue Filterlose im Mundwinkel.
Stimmt, Carina war wirklich noch nicht ausgeschlafen und hatte ihren Neffen umsonst der Gefahr ausgesetzt.
Sandro war aus ihrem Blickfeld verschwunden. »Ich kann nicht reinsehen«, krähte er herüber. Es ratterte, offenbar rüttelte er an irgendetwas herum.
»Sandro?«, rief Carina und verrenkte sich fast den Hals, als sie um den Mauervorsprung und das Geländerstück zu spähen versuchte.
»Die Rouletten sind kaputt, ich krieg sie nicht hoch.«
»Die kann man auch nur von innen hochziehen. Komm lieber wieder rüber.« Die Vorstellung, Wanda läge wirklich in der Wohnung und ihr Kind würde sie so finden, beunruhigte Carina noch mehr. Es dauerte eine Weile, dann tauchte endlich sein kleines Gesicht auf. »Ich wollte Kerstin holen.« Seine Mundwinkel zuckten.
Carina fing ihn auf und schloss ihn in die Arme. »Die Mama kommt bald«, flüsterte sie ihm in die Haare.
»Lass mich runter. Es steht alles auf dem Zettel.« Er strampelte sich frei.
»Welcher Zettel?«
»Den die Mama extra für dich mit lauter Sachen vollgeschrieben hat. Gaaanz wichtig, hat sie gesagt.« Sandro holte sich wie selbstverständlich ein Eis aus Frau Dornbecks Kühlfach.
»Und
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