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Die Gesichtslosen - Fey, S: Gesichtslosen

Die Gesichtslosen - Fey, S: Gesichtslosen

Titel: Die Gesichtslosen - Fey, S: Gesichtslosen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stephanie Fey
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noch aus. Er war ja kein Mörder, es war ein Versehen. Auch bei Marie war das so gewesen. Sie behauptete ihn zu lieben. Aber was hatte er davon, wenn sie in Wirklichkeit weggehen wollte, auf einen anderen Kontinent sogar. Damals hatte es genügt, dass er blinzelte und kurz die Augen schloss – schon blieb nur ein Sehnen nach ihr, sonst nichts. Und dieses Gefühl konnte er beliebig verschenken, an einen Hydranten, einen Besenstiel oder eine Schaufensterpuppe. An alles, was nur eine Andeutung von Auge, Nase, Mund besaß. Zu Hause noch einmal so viel Folie abzwacken, das ging nicht. Er fand eine alte Pferdedecke im Keller und zog sich zum Frühstück um. Den ganzen Vormittag beim Blumengießen und Laubrechen im Garten überlegte er, wie er die Verpfuschte losbrachte.
    Als er gegen Mittag seinen Rechen in die Kammer zurückstellte, stolperte er über ihre Handtasche. Schminke, Taschentücher und anderen nutzlosen Frauenkram leerte er auf den Boden. Ein Geschenk fiel heraus. Glitzerpapier mit einer Schleife. An einem Bändchen hing eine Karte.
    Sein Name stand darin. Sein richtiger.

34.
    In Nussers Kammer brannte die Schreibtischlampe und beleuchtete sein groteskes Arsenal. Wenn er vom Menschenteile-Präparieren genug hatte, erfand er nach Feierabend neue Wesen. Nicht nur mit verschiedenen Fellstücken überzog er die Tierbälger und Schädel neu, sondern montierte auch Schrauben und Blechteile dazu. Ein weißes Kaninchen mit Zahnradaugen und Kugelschreiberfedernschnurrhaaren grinste von der Wand. Ein Kopf mit Flossenohren und einer verrosteten Fuchsfalle im Maul stierte aus alten Kamerablitzlichtern ins Zimmer.
    Carina hatte im Vorbeigehen hineingespäht; der Präparator assistierte oben im Seziersaal.
    Sobald sie ihren eigenen Arbeitsraum betrat, sperrte sie jeden Gedanken an Wanda aus. Sie musste sich endlich voll und ganz auf ihre Arbeit konzentrieren und hoffte, dass ihre Schwester nur bei irgendeinem Liebhaber verschlafen hatte. Zu gern hätte sie ihr die Leviten gelesen, weil sie das mit Sandro unverantwortlich fand. Ganz abgesehen davon, dass sie wegen ihr erst jetzt mit der Rekonstruktion beginnen konnte. Aber die Predigt von wegen du hast ja selbst keine Kinder und weißt gar nicht, wie angekettet man da ist, wollte sie sich ersparen.
    Der technische Teil, die genaue Berechnung der Weichteildicke und der Plastilinaufbau waren abgeschlossen, nun ging es um die künstlerischen Feinheiten der Skulptur. Carina liebte diesen Teil der Arbeit, wenn sie aus einem Rohling ein Individuum gestalten konnte. Der Schädel jedes Menschen ist einzigartig und gibt die Struktur vor. An ihr lag es, mit dem Modellierwerkzeug diese Züge herauszuholen und zu unterstreichen.
    Die Augenbrauen zupften sich die jungen Mädchen heute wieder, sie waren vermutlich nicht so dicht zusammengewachsen wie bei Frida Kahlo. Also ritzte sie nur wenige Striche in einem geschwungenen Bogen auf dem Augenhöhlenrand ein, deutete so mit dem Modellierstab die Härchen an. Die Ohren, abgesehen von stark abstehenden, waren auf den ersten Blick für den Betrachter zwar nicht entscheidend, sie mussten lediglich vorhanden sein. Erst wenn man sich nicht sicher war, ob die Skulptur der gesuchten Person ähnelte, konnten die Ohren an Bedeutung gewinnen. Unter der Perücke würden ohnehin nur die Ohrläppchen zu sehen sein. Carina formte zwei Ohrmuscheln und verband sie über einen Streifen Plastilin mit der Kopfskulptur. Die exakte Nachbildung der Kaumuskeln bestimmte die Form des Mundes und des Kinns. Sie baute die leicht vorstehende Oberlippe auf. Mit dem kleinen Finger drückte sie Vertiefungen um Nase und Mundwinkel, verlieh dem Gesicht einen entspannten Ausdruck. Keine richtige Falte, die würde das Gesicht zu alt wirken lassen. Auch ein Lächeln wäre zu viel. Die Lippen schob sie etwas auseinander, um die Besonderheit der abgenutzten Schneidezähne sichtbar zu machen. An Milchzähnen gab es diese Art der Verformung, wenn Kleinkinder sehr lange am Daumen lutschten, aber bei einer fast Erwachsenen? Rosa Salbecks perfektes Gebiss in der Akte fiel ihr wieder ein. Sie streckte sich, lockerte die verkrampften Nackenmuskeln. Auch ihr wäre ein eigener Physiotherapeut jetzt recht, das war eben der Unterschied zwischen Chefin und Angestellter, dachte sie und massierte sich die Halswirbel. Sie spähte auf die Uhr in ihrem Handy. Gleich würde ihr Vater mit den Angehörigen kommen. Im Internet suchte sie die Telefonnummer der Zahnärztin heraus, die sie in ihrem

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