Die Gesichtslosen - Fey, S: Gesichtslosen
Ähnlichkeit zwischen der Frau und der Rekonstruktion erkannte. Manchmal war schwer auszumachen, was Mutter und Tochter den gleichen Ausdruck verlieh. Der Abstand der Augen, die Grübchen beim Lachen, die Form der Wangenknochen. Frau Preuss war stark geschminkt, mit unnatürlich langen Wimpern, und anstelle der Brauen hatte sie eintätowierte Bögen viel zu weit oben. Aber ihr Profil ähnelte unverkennbar dem der Toten – oder dem, wie es in zwanzig Jahren ausgesehen hätte. Ihr Mann schritt langsam um den Schreibtisch herum und betrachtete die Nachbildung aus der Nähe.
Frau Preuss wandte sich ab und schüttelte den Kopf. »Nein, nein, das ist sie nicht«, presste sie heraus, wollte kehrtmachen, hatte die Hand schon an der Klinke.
Matte berührte sie sanft am Arm. »Sollen wir zusammen hingehen?«, schlug er vor. »Wissen Sie, so könnte Ihre Tochter ausgesehen haben, sie muss es nicht sein. Und wenn Sie sich dann immer noch sicher sind, dass sie es nicht … «
»Da brauch ich nicht näher hinzugehen«, unterbrach ihn Frau Preuss, ihre Stimme überschlug sich. »Da stimmt ja gar nichts. Die Haare, die Augen, die Nase. Auch die Haut, Marie hatte ganz feine Haut, fast durchsichtig.« Sie drohte auseinanderzufallen, umschlang sich selbst mit überlangen roten Fingernägeln und musste vor Zorn ein paarmal schlucken. »Sie bestellen mich extra her, für nichts und wieder nichts. Der Klotz da drüben ist vielleicht schön anzusehen, hat aber nichts mit … mit … ihr zu tun, gar nichts. Was sich die Polizei einbildet, als ob es nicht reicht, fast zwei Jahre ohne Ermittlungsergebnis … «
Sie unterbrach ihren Redeschwall, als ihr Mann die Hand hob, ruckartig. Carina glaubte, er würde die Skulptur herunterschlagen, doch dann berührte er das Gesicht, strich mit den Fingerspitzen über die Wangen und streichelte die braune Perücke. Sein Körper bebte wie ein Findling, unter dem ein Vulkan brodelte. »Marie hat … « Er flüsterte so leise, dass Carina näher trat und sich zu ihm beugte, um ihn zu verstehen. »… langes rotes Haar, in kleinen widerspenstigen Kringeln bis hierher.« Er zeigte die Länge mit der Handkante an der Skulptur. »Sie hasst ihre Haare und trägt immer irgendwas auf dem Kopf, ein Tuch oder einen Hut.«
Carina band die Perückenhaare zu einem Pferdeschwanz, suchte in ihrer Umhängetasche nach Wandas roter Häkelmütze und setzte sie ihr auf. Auf einmal schluchzte Frau Preuss hinter ihr auf, ohne dass ihrer Kehle ein Laut entfuhr. Als wäre nicht genug Luft im Raum, riss sie den Mund auf und sackte dann zusammen. Matte fing sie auf und drückte sie auf den Schreibtischstuhl, den Carina schnell herbeirollte.
Herrn Preuss’ Lippen zitterten. Er sprach in der Gegenwart von seiner Tochter, so als wäre sie noch am Leben. Keiner wagte ihn zu korrigieren. »Ihre Augenbrauen sind dichter.«
Carina ritzte ein paar Härchen mehr ein. »So?«
Er nickte. »An ihrem achtzehnten Geburtstag darf sie sich endlich die Haare färben.« Sein Bart glänzte tränennass. Carina reichte ihm eine Packung Taschentücher.
»Hat sich Marie als Kind im Gesicht verletzt?«, fragte sie nach einer Weile. Auch Herrn Preuss hatte sie einen Hocker untergeschoben. Ihr Vater legte den Zeigefinger auf die Lippen, wollte ihr bedeuten, dass sie besser schweigen sollte. Sie ignorierte ihn, das hier war ihr Reich, und sie bestimmte, wie und was sie fragte. Die Kerben am Kieferknochen, sie musste es wissen.
»Mit vier ist Marie mit dem Roller gestürzt und hat sich am Lenker das Kinn aufgeschlagen.« Herr Preuss zeigte auf die Stelle an der Skulptur. »Hier unten hat sie eine winzige Narbe. Ich ziehe sie immer auf und sage: Tut das Kinn noch weh? Dabei kann sie sich selbst gar nicht mehr daran erinnern.«
»Und später, gab es da mal eine zahnchirurgische Operation, hatte sie Probleme mit den Zähnen?«, bohrte Carina weiter. Sie dachte an die Abnutzung der Schneidezähne.
Da sprang Frau Preuss vom Stuhl auf, Schlieren von Wimperntusche liefen ihr übers Gesicht. »Was hat er ihr angetan, sagen Sie’s mir, ich will es wissen! Ihr etwa die Zähne ausgeschlagen, bevor er sie … bevor er ihr … « Ihr Mann fand endlich die Kraft, sie zu halten.
37.
Feldafing, 1996
Wieder und wieder befragte er Rosa. Dabei gab es nur drei kleine Sätze, die sie bei dem Ganzen erfand, die konnte sie leicht variieren, egal wie oft der Typ sie vernahm.
Vorhin erst hätte Julia ihr von dem Mikrofilm erzählt.
Er sei in der losen
Weitere Kostenlose Bücher