Die Gesichtslosen - Fey, S: Gesichtslosen
Ihre Lieblingsfarbe sei rosa gewesen, wie ihr Name. Fieberhaft schob sie Glasstück um Glasstück zur Seite. Bald brannten ihr die Augen. Sie lehnte sich zurück, zog ihre Ellbogen nach hinten, um ihren schmerzenden Rücken zu lockern und starrte erneut in den Scherbenhaufen. Und da war es, ein Stück rosafarbenes Glas. Carina nahm ihre Brille ab und hielt das Glasstück vor das Etikett des Kartons. Die Schrift erschien klar und scharf, je weiter sie es entfernte, desto kleiner wurden die Buchstaben. Kein Zweifel, das war das Brillenglas einer Kurzsichtigen.
Sollte sie ihren Vater anrufen? Drei Viertel des Mülls lagen noch ungeprüft auf dem Tisch. Sie streckte sich. Zumindest ihrer Chefin sollte sie Bescheid geben, dass sie heute nicht mehr ins Institut kam. Sie setzte hier mexikanische Arbeitsverhältnisse fort und riskierte einiges damit. Von Fromm sah und hörte sie nichts, die Kartons schluckten jedes Geräusch. Vielleicht fand sie ein weiteres Brillenstück, dann konnte Luise das Gestell identifizieren und ein Optiker die genauen Dioptrien. Sie stand auf und ging langsam um den Tisch herum, versuchte von oben ein Stück Silberbügel zu entdecken. Moment, da glänzte etwas Goldenes, vermutlich wieder ein Kronkorken oder ein Stück Scherbe im Licht. Sie wühlte in der Schublade, fand einen Pinsel, kehrte Sand und Steinchen beiseite, hob dann mit einem Holzstäbchen ein Projektil an. Wie konnte die Polizei das übersehen haben? Stammte das aus dem Schädel oder dem Bauchraum und war bei der Bergung aus dem Leichnam gefallen?
Sie rieb sich die Augen. Jetzt musste sie exhumieren. Hastig wählte sie Mattes Nummer. Kein Empfang. Auf dem Weg zur Tür irrte sie zwischen den Kartonreihen umher, fand die Toilette an einem Ende eines Ganges und eine verschlossene, grau gestrichene Tür mit einer aufgemalten Giftwarnung, aber nirgends einen Hinweis, in welcher Richtung sich der Ausgang befand. Sie lief zurück und entdeckte erleichtert die gemalten Pfeile ganz oben an den Regalen.
Fromm redete mit Frau Kirchleitner an der Tür. »Gut, dass Sie kommen.« Er wandte sich zu Carina um, griff nach seiner Jacke, die über einem Stuhl hing. »Ich muss zur Vertretung nach unten. Großeinsatz, fast alle Kollegen rücken aus. Ziehen Sie einfach die Tür hinter sich zu, wenn Sie fertig sind. Mattes Tochter vertraue ich.« Er zwinkerte ihr zu und eilte davon. Das Verbotszeichen über dem Weißwursttopf bewahrheitete sich, auch im Eingangsbereich war noch kein Handyempfang. Draußen im Flur, den Fuß in der Tür, versuchte sie es noch einmal. Hier baute sich endlich ein Signal auf. Sie hörte Sirenen, packte Fromms Topf und stellte ihn in die Tür, bevor sie aus dem Fenster im Gang spähte. Großeinsatz, tatsächlich, die Polizisten liefen zu ihren Autos und schalteten die Blaulichter ein. Zwei Anrufe in Abwesenheit zeigte ihr Handy an und drei Nachrichten auf der Mailbox von ihrem Vater.
55.
Deggendorf im Oktober
Rosas Armbeugen hatten sich entzündet, kleine Pusteln, die juckten. Auch in den Achseln und am Hals entlang kroch ein Ausschlag nach allen Seiten wie ein Schimmelfleck an der Wand. Zuerst hielt sie es für eine Allergie auf die Probeshampoos aus der Arbeit, die sie benutzte. Doch der Ausschlag blieb, auch wenn sie nur Kernseife verwendete und sogar das Deo wegließ. Der Apotheker gab ihr eine Salbe, die zwar den Kratzdrang dämpfte, aber die Quaddeln blieben, breiteten sich mal da, mal dort aus wie schwimmende Inseln. Zum Arzt wollte sie nicht, dort würde sie bestimmt mehr als nur ihren gefälschten Namen angeben müssen. Bald bedeckte der Ausschlag ihren gesamten Körper. Nur ihre Hände, Füße und das Gesicht blieben verschont. Da wo die Heiligen ein Christusmal getragen hatten, dachte sie. Nach Feierabend vertiefte sie sich in die Legenden, flehte, auch auf sie möge eine derartige Wunderkraft übertragen werden, dann wäre sie mit ihrem Sohn und ihrer Schwester wieder vereint. Doch wie sollte das gelingen, die in dem Buch hatten nicht gemordet, ihre Seelen waren rein gewesen. Sosehr sie sich auch zu beherrschen versuchte, Rosa schaffte es nicht einmal umzublättern, ohne sich über die Pusteln zu streifen, zu reiben, zu kratzen, sie aufzuscheuern, bis es blutete. Sie schleuderte das Heiligenlexikon gegen die Wand, brach ihm den Rücken, zerfetzte die Seiten, warf sie in den Wasserkessel und zerkochte sie. Nur die Herrhausen-Dokumente blieben ihr, obwohl sie die inzwischen auswendig kannte, samt Phrasen, Betreffs
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