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Die Gesichtslosen - Fey, S: Gesichtslosen

Die Gesichtslosen - Fey, S: Gesichtslosen

Titel: Die Gesichtslosen - Fey, S: Gesichtslosen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stephanie Fey
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bei Frankfurt planen können, wenn sie, von beiden deutschen Staaten überwacht, hinter einer Mauer lebten? Von der Deutschen Bank erhielt die DDR regelmäßig Devisen. Im Gegenzug erfuhr das Bundeskriminalamt, wo sich die Terroristen aufhielten und was sie planten. Wenn sie überhaupt noch etwas planten.
    Die Attentate der achtziger Jahre blieben unaufgeklärt. Von Jahr zu Jahr wurde die RAF gesichtsloser. Die Verdächtigen, die an jeder Bushaltestelle und in jeder Behörde auf Fahndungsplakaten hingen, wurden nie aufgespürt, und wenn doch, war ihnen nichts nachzuweisen. Vielleicht stellten sich für die Plakate unterbezahlte BKA -Beamte zur Verfügung, um wie bei einer Gegenüberstellung die Lücken zu füllen, wenn ein Zeuge einen Täter entlarven sollte. Rosa hatte die Fotos nie genauer betrachtet. War auch Krallinger darunter gewesen oder – sie stockte – Felix? Das Attentat und die Maßnahmen zu seiner Verhinderung glichen sich in auffallender Weise. Es war, als hätte das BKA den RAF -Terroristen eine Anleitung geschrieben.
    Warum nur hatte sie sich früher nie für Politik interessiert? Wäre dann womöglich alles anders gekommen? Sie hatte mit einem DDR -Spion geschlafen und an nichts außer an Liebe gedacht.

54.
    Fromm schien tatsächlich den Überblick über die vielen Hundert Schachteln zu haben und wuselte so flink zwischen den Regalreihen durch, dass Carina ihm kaum folgen konnte. Sie versuchte ein System in den mit winziger Schrift bedeckten Aufklebern auf jedem Karton zu erkennen. Was von einem unaufgeklärten Verbrechen übrig blieb, wartete hier in Pappe gepackt auf seine Enthüllung. Wie in einer Bibliothek konnte das nur deuten, wer zu lesen verstand, sowohl Buchstaben als auch Spuren.
    »Hier, ich hab’s. Die haben damals wohl jeden Kieselstein aufgehoben.« Ächzend zerrte Fromm eine große Kiste unter einem Regal hervor, hievte sie auf eine Sackkarre und rollte sie zu dem langen Tisch. »Dann viel Vergnügen. Hier sind Tüten, Schachteln, Pinzetten, Kabelbinder und was Sie vielleicht sonst noch gebrauchen könnten.« Er zog eine Schublade unterm Tisch auf. »Ich bin vorne, wenn was ist.«
    Carina streifte sich Handschuhe über und öffnete den Karton. Mehrere schwarze Mülltüten lagerten darin. Sie hob eine auf und leerte sie vorsichtig auf den Tisch. Fromm hatte Recht gehabt. Steine, Äste, Kronkorken, Drahtstücke, vom Isarwasser glattgeschliffene Scherben und abgebrochene Flaschenhälse. Sie breitete alles aus, kam sich vor wie beim Legospielen auf der Suche nach dem passenden Steinchen. Unter dem Tisch zog sie einen Sattel auf einem Eisengestell heraus, hoffentlich kein Asservat. Das Ding entpuppte sich als ergonomischer Sitz und entspannte angenehm die Wirbelsäule. Wer wusste, wie viele Stunden mancher Polizist hier schon verbracht und deshalb diesen Hocker bei der Staatskasse durchgesetzt hatte. Zentimeter für Zentimeter schob sie den Müll auseinander. Nach was suchte sie eigentlich? Den Stoffrest ihres Rocks, der zu Rosa Salbecks Identifizierung führte, hatte das Bundeskriminalamt beschlagnahmt. Fühlte Carina sich dieser Frau so verbunden, weil sie von ihrer Schwester vermisst wurde? Sie schloss die Augen und versuchte sich ganz in Rosa Salbeck hineinzuversetzen.
    Rosa steht auf der Wehrbrücke, nicht an der flacheren Stelle, wo sie dann angetrieben wird, und starrt in die Isar. Die Strömung oder ein Strudel werden sie nach unten ziehen, damit sie sich nicht schwimmend ans Ufer retten kann. Sie nimmt ihre Brille ab und wirft sie voraus. Als Kurzsichtige sieht sie gar nicht, wie das Gestell versinkt. Oder nein, vor Aufregung bleibt sie mit der Hand an der Brille hängen, und sie fällt ihr ins Wasser. Legte ein Brillenträger seine Sehhilfe auf dem Weg in den Selbstmord irgendwo ab?
    Carina rief sich die Obduktionsakte in Erinnerung. Der Leichnam war stark beschädigt gewesen. Dann mussten hier zwischen den ganzen Steinchen aber Knochenreste sein. Also noch einmal von vorn. Zentimeter um Zentimeter arbeitete Carina sich durch, sortierte die Scherben auf die eine Seite, fand Muschelschalen, vertrocknete kleine Krebse, eine Menge Sand und – ihr Herz schlug einen Salto, einen silbrig glänzenden Brillenbügel samt dem Rest einer Einfassung. Sie hielt ihn unter die Lampe. Die Spur einer dunklen Lackierung hing noch in der Bügelverschraubung. Im Scherbenhaufen suchte sie nun nach leicht getönten oder durchsichtigen Gläsern. Was hatte Luise Salbeck von ihrer Schwester gesagt?

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