Die Gesichtslosen
«Wohnen sie auch hier?»
«Ach woher! Sie sind alle ausgezogen. Sie haben alle eine gute Anstellung gefunden. Drei arbeiten in einer anderen Gegend. Die, die hier in Accra geblieben sind, wohnen in feinen Bungalows. Sie wollten, daß ich auch hier wegziehe. Können Sie sich das vorstellen?»
«Sie wollten also nicht wegziehen in einen schönen Bungalow?» ermunterte Vickie die Frau zum Weitererzählen.
«Von hier wegziehen?» rief Naa Yomo aus. «Hier, wo ich das große Erdbeben von 1939 überlebt habe?»
«Ach was, damals waren Sie schon hier?»
«Wo hätte ich denn sonst sein sollen? Seit dem Tag, an dem ich mich selbst waschen konnte, habe ich in diesem Haus gelebt. Ein Teil des Hauses ist damals vollständig eingestürzt, aber wir sind geblieben. Wir haben uns nicht nach Korle-Gonno, Kaneshie oder Abossey-Okai umsiedeln lassen wie viele andere. Wir haben dieses Haus im Schweiße unseres Angesichts aus eigener Kraft wieder aufgebaut. Dieses Haus wurde auf dem Fundament der Ehre gebaut. Und jetzt schaut euch an, wie einige diese Ehre mit Füßen treten.» Sie zeigte mit ihrem Gehstock auf Maa Tsurus Tür.
«Was hat sie getan?» wollte Kabria wissen.
«Wissen Sie, daß dieses Haus auf der ursprünglichen Siedlung unserer Vorfahren steht, die aus Niger kamen?»
«Tatsächlich?» heuchelte Vickie Interesse.
«Ja. Genau diese Stelle hier, auf der mein Hocker steht, das ist das wahre Accra. Wußten Sie das? Und hier unter mir, in dieser Erde, liegt meine Nabelschnur begraben. Hier habe ich meine ersten beiden Zähne bekommen. Und hier verliere ich meine beiden letzten. Das habe ich auch meinen Kindern erklärt.»
Kabria wurde allmählich ungeduldig. Sie konnten nicht den ganzen Nachmittag mit der alten Dame verbringen. «Naa Yomo, wer war das, der Maa Tsuru gesucht hat?»
«Das war dieser Mann!» Naa Yomo war jetzt wieder ganz bei der Sache. «Ich weiß alles. Ich weiß genau Bescheid. Ich setze mich jeden Morgen hierhin und beobachte und höre alles. Tagein, tagaus habe ich das in den vergangenen Jahren gemacht. Alles beobachtet. Und ich habe eine Menge gesehen.»
«Und dieser Mann?»
«Der? Er kam hierher. Zu ihr. Ein böser Mann. Sehr böse. Und weil er zu ihr gekommen ist, will keiner mehr etwas mit ihr zu tun haben. Es ist jetzt eine Woche her, daß er da war, und seitdem geht sie nicht mehr raus. Die Leute bringen ihr aber Essensreste, wegen der Kinder. Wir sind schließlich immer noch eine Familie, wissen Sie.»
«Und wissen Sie auch, was der Mann von ihr wollte? Wer ist das?» drängte Vickie.
«Das ist der Fluch. Ich habe gesehen, wie hier die Kinder gemacht und wie sie geboren wurden und dann heranwuchsen. Ich habe gesehen, wie Geschäfte abgewickelt wurden, gute und schlechte. Ich kann Ihnen von etlichen Streitereien und Auseinandersetzungen in diesem Haus erzählen. Ich weiß, wie es in den Ehen zugeht, den legal geschlossenen und den eheähnlichen Verhältnissen. Dieses Haus wurde von einem ehrenwerten Mann für seine zwölf Söhne erbaut. Ich bin die Tochter eines dieser Söhne. Ich bin die einzige direkte Enkelin des Mannes, dessen Geist hier immer noch lebt. Alle, die hier wohnen, sind Nachfahren dieses ehrenwerten Mannes. Ich habe gesehen, wie Familien gegründet wurden und wieder auseinanderbrachen. Ich sehe Mütter, die ihre Kinder in die Schule prügeln, und andere, die ihre Kinder aus der Schule hinaus auf die Straße prügeln. Vor 38 Jahren wurde sie genau in dem Zimmer geboren, in das sie sich nun eingeschlossen hat.»
Kabria zog ihr Notizbuch aus der Tasche und notierte das Alter von Fofos Mutter. Jetzt wollte sie von Naa Yomo wissen, ob der Mann, der sie aufgesucht hatte, ein Mitglied der Großfamilie sei.
«Gott bewahre!» Die alte Dame spuckte aus. «Mitglied? Dieser Großfamilie? Wissen Sie, daß mein Großvater einer der wenigen Männer der Goldküste war, dem der alte Gouverneur Sir Gordon Guggisberg persönlich die Hand geschüttelt hat?»
Vickie und Kabria wollten jetzt alles wissen.
«Ach ja?» rief Kabria aus.
«Ja.» Naa Yomo formte ihren fast zahnlosen Mund zu einem stolzen Lächeln. «Und wissen Sie noch etwas? Wie es von meinem Ururgroßvater meinem Urgroßvater, von dem wiederum meinem Großvater, von dem meinem Vater und von dem wiederum mir erzählt wurde, war mein Ururururgroßvater einer der ersten Männer der Goldküste, die mit den Europäern direkte Handelsbeziehungen unterhielten.»
«Ist nicht wahr», staunte Vickie.
«Doch. Er handelte mit allen.
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