Die Gesichtslosen
Mit Schweden, Dänen, Portugiesen, Briten. Von Hand zu Hand. Gewehre und Munition gegen Goldstaub und Palmöl und sogar Sklaven.»
«Sklaven?» schrien Vickie und Kabria gleichzeitig auf.
«Ach. Darüber empört ihr euch. Allerdings habe ich das auch getan, als ich zum ersten Mal davon gehört habe. Aber so war es.»
Kabria fragte sich, was hinter Naa Yomos Bekenntnis steckte. Fehlgeleiteter Stolz? Denn wer gab schon heute im Zeitalter von «Emancipation Day» und Panafest-Feiern in Ghana offen zu, daß er von einem Mann abstammte, der in den Sklavenhandel mit den Europäern verwickelt war? Kabria spürte wieder die Zeit im Nacken und wollte endlich zur Sache zu kommen. «Naa Yomo, wir können nicht gehen, bevor wir nicht mit Maa Tsuru gesprochen haben», erklärte sie.
Naa Yomo starrte sie mit ausdruckslosem Blick an: «Dann geht und klopft an ihre Tür.»
Dort angekommen klopfte Vickie vorsichtig und rief leise: «Maa Tsuru.»
Keine Antwort.
Sie rief noch einmal und fügte hinzu: «Wir kommen von einer Organisation. Ihre Tochter Fofo befindet sich in unserer Obhut. Wir müssen mit Ihnen reden.»
Keine Reaktion. Kabria blickte hinüber zu Naa Yomo, die alles genau beobachtete. Vickie klopfte erneut. Nichts.
«Vielleicht sollten wir jetzt gehen», schlug Kabria vor.
Vickie seufzte. «In Ordnung. Komm, wir bedanken uns noch bei Naa Yomo, dann machen wir uns auf den Weg.»
In dem Moment hörte Kabria ein Geräusch aus dem Zimmer. Sie hielt inne: «Hast du das gehört, Vickie?»
Vickie runzelte die Stirn, kam zurück und preßte ihr Ohr an die Tür. «Sie weint», sagte sie an Kabria gewandt und klopfte noch einmal.
«Das ist der Fluch!» jammerte Maa Tsuru von drinnen. «Das ist der Fluch!»
Vickie und Kabria klopften jetzt lauter an die Tür. Ein Junge weinte. Doch Maa Tsuru verstummte. Sie klopften wieder. Keine Reaktion. «Wir erregen bereits zuviel Aufsehen hier», stellte Kabria fest. Vickie drehte sich um. Die Kinder hatten aufgehört zu spielen und schauten den beiden zu. Die Erwachsenen gaben sich beschäftigt, allzu beschäftigt. Schnüffler, auf frischer Tat ertappt. Sie kehrten zurück zur alten Dame. «Sie ist da drin und weint», sagte Vickie zu ihr. «Sie und ihr Sohn.»
«Welcher? Der große oder das Baby?»
«Ein Baby haben wir nicht schreien hören», erwiderte Kabria.
«Sie ist da drin mit einem Baby und einem Vierjährigen. Zwei Söhne hat sie. Und das Baby hat nicht geschrien?» wollte Naa Yomo wissen.
«Nein.»
Naa Yomo schüttelte bedächtig den Kopf. «Sie kommt nur raus, wenn sie unbedingt muß. Normalerweise nur bei Tagesanbruch, um auszufegen, zu waschen, zu baden oder den Nachttopf auszuleeren. Wenn dich ein solcher Mann aufsucht, wirst du zur Ausgestoßenen in deinem eigenen Haus. Seid ihr sicher, daß das Baby nicht geweint hat?»
«Sicher», wiederholte Vickie. «Aber sie hat von einem Fluch gesprochen. Sie weinte wegen eines Fluchs.»
Naa Yomo kicherte. «Möchtet ihr euch nicht setzen?»
Sie nahmen wieder Platz.
«Wißt ihr», begann Naa Yomo. «Wenn der Samen eines Fluches auf fruchtbaren Boden fällt, breitet er sich aus mit der zerstörerischen Geschwindigkeit einer Kriechpflanze. Und während er das tut, nährt er den Aberglauben, der wiederum den Verstand raubt und die Fähigkeit, sich seiner Verantwortung zu stellen. Der einzige Grund, warum meine sechs noch lebenden Kinder in Bungalows wohnen, ist, daß mein Mann, Gott hab ihn selig, nach dem Tod unseres fünften Kindes dem Aberglauben abgeschworen und sich mehr auf seine Verantwortung konzentriert hat. Nur deshalb ist er als guter Mann gestorben. Ich will euch etwas von dem Fluch erzählen, der diese Frau dort drüben zum Weinen bringt.»
Vickie und Kabria mußten nicht überredet werden.
«Ich war dabei, als Maa Tsuru geboren wurde», begann Naa Yomo ihre Geschichte. «Und wißt ihr was? Wie war das noch mal? Bist du das mit den drei Kindern?» fragte sie an Kabria gewandt.
Die nickte.
«Weißt du, warum Gott die Vergeßlichkeit erschaffen hat?»
Kabria schüttelte den Kopf.
«Wegen der Schmerzen bei der Geburt.» An Vickie gewandt sagte sie: «Du wirst das verstehen, wenn deine Zeit gekommen ist. Wißt ihr, als Tsurus Mutter schwanger wurde, verleugnete der junge Mann, der dafür verantwortlich war, also Tsurus Vater, die Vaterschaft. Noch schlimmer, er behauptete, er hätte Tsurus Mutter nie im Leben gesehen. Dann kam noch etwas hinzu. Heutzutage gibt man nicht mehr viel auf die Initiationsrituale
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