Die Gesichtslosen
Stubenfliege auf ihrem Arm niederläßt, als auf das Alter eines Mädchens von der Straße. Innerhalb der 24 Stunden, aus denen ein Tag besteht, können die Widrigkeiten der Straße Erscheinungsbild und Verhalten dieser Mädchen stark verändern. Und das in so kurzen Abständen, daß sie in einem Moment noch wie ein Kind erscheinen und im nächsten schon wie eine reife Frau. Ähnlich wirkt es sich aus, wenn das Kind von der Straße aufgelesen und in Obhut genommen wird, so wie es mit Fofo geschah.
Die wenigen Tage unter Dinas sicherem Dach und der umfassenden Fürsorge von MUTE hatten bei Fofo eine enorme Verwandlung bewirkt. Sie hatte sich entspannt. Ihre Gesichtszüge waren jetzt ruhig und weich. Jetzt, da sie nicht mehr die Erwachsene und mit allen Wassern Gewaschene spielen mußte, um zu überleben, zeigte sie das Aussehen und Verhalten einer Vierzehnjährigen.
Sie lächelte Kabria scheu an.
«Wie geht es dir?» fragte Kabria.
«Gut.»
«Tut dir noch irgendwas weh?»
«Nein.»
«Sie nimmt Schmerzmittel», erklärte Dina. «Und Afi hat sie auch ganz schön verwöhnt.»
Afi war Dinas Haushaltshilfe. Sie hatte für ihre Ausbildung als Friseurin an Fofo geübt und deren Haare in hübschem Maiskolbenstil geflochten.
«Ich bin sehr froh, daß du mit mir reden willst», sagte Kabria.
Fofo lächelte wieder schüchtern.
«Bleiben wir hier?» wollte Kabria von Dina wissen. «Bist du bereit? Sollen wir anfangen?»
Fofo warf Dina einen kurzen Blick zu. Die murmelte: «Ich glaube, ich lasse euch beide besser allein.»
«Nein, bitte bleiben Sie!» protestierte Fofo.
Dina und Kabria sahen sich an. «Du willst, daß wir alle miteinander sprechen?» fragte Dina schließlich.
«Ja.»
Dina bedeutete Afi, die in einer Ecke des Wohnzimmers bügelte, sich zurückzuziehen.
Afi folgte widerwillig und verschwand in die Küche durch die angrenzende Tür, die sie leise hinter sich zuzog.
«Ich nehme an, Auntie Dina hat dir erzählt, daß wir heute Naa Yomo und deine Mutter aufgesucht haben», eröffnete Kabria das Gespräch.
Sie saß neben Fofo auf dem Sofa, Dina hatte im Sessel gegenüber Platz genommen.
«Haben Sie meine Brüder gesehen?» fragte Fofo nüchtern.
Kabria erklärte ihr, daß ihre Mutter nicht geöffnet hatte. Fofo zuckte mit den Schultern und verzog das Gesicht.
«Das scheint dich nicht zu überraschen», kommentierte Dina.
Fofo antwortete nicht.
«Wir haben uns aber lange mit Naa Yomo unterhalten», fügte Kabria hinzu.
Fofo kicherte kindisch. «Dann haben Sie sicher eine Menge über ihren Urgroßvater erfahren.»
Kabria lachte laut. «Von dem erzählt sie wohl jedem?»
«Fast allen.» Fofo lachte jetzt auch. Dina wurde abgelenkt durch ein Geräusch an der Tür, dem sie dann aber keine weitere Beachtung schenkte.
«Also, wo fangen wir an?» fragte Kabria.
«Im weiteren Sinne liegt es im Interesse von MUTE herauszufinden, warum Leute generell auf der Straße leben. Besonders in einem Fall wie deinem, Fofo, da du ja ein Zuhause hast und deine Mutter noch am Leben ist», hielt Dina fest.
«Genau. Und außerdem gibt es ja richtig nette Mitglieder deiner Großfamilie so wie Naa Yomo. Also warum?» ergänzte Kabria.
Fofo dachte kurz nach, als würde sie sich die Frage gerade selbst zum ersten Mal stellen. «Naja, ich habe mich ja nicht von einem Tag auf den anderen entschieden, auf der Straße zu leben. Es hat angefangen mit dem Betteln. Ich bin immer zum Betteln auf die Straße gegangen, aber abends bin ich immer nach Hause zu meiner Mutter zurückgekehrt», erklärte sie schließlich.
«Wann hat das angefangen mit dem Betteln?» wollte Dina wissen.
«Als ich mit der Schule aufgehört habe.»
«Du bist zur Schule gegangen?»
«Ja», grinste Fofo stolz. «Aber ich bin nur bis zur zweiten Klasse gekommen. Dann war kein Geld mehr da. Meine Mutter konnte die Uniformen und Schulbücher nicht mehr bezahlen.»
«Und dein Vater?»
«Der war nicht da. Er hat uns schön vor langer Zeit verlassen. Noch bevor ich geboren wurde, sagt meine Mutter.»
«Wo ist er hin?»
Fofo zuckte mit den Schultern.
«Also hast du mit dem Betteln angefangen, weil ihr kein Geld hattet.»
«Und kein Essen. Das war noch drängender», fuhr Fofo fort. «Wenn es kein Essen gibt, wartet man nicht lange darauf, daß einen jemand rausschickt zum Betteln. Hunger ist ein Widersacher, ein übermächtiger. Wenn der dich treibt, dann gehst du. So war es auch bei Baby T.»
«Bei wem?»
«Meiner älteren Schwester. Sie hat auch
Weitere Kostenlose Bücher