Die Gesichtslosen
sie plötzlich unterbrochen.
Da wartete offensichtlich ein Hörer am Telefon, um an der Diskussion teilzunehmen. Im Studio wurde hektisch an irgendwelchen Knöpfen gedreht, und Sylv Po erklärte, interessierte Zuhörer dürften sich gerne melden, müßten aber warten, bis die Telefonleitungen freigeschaltet seien.
Das rote Signallämpchen leuchtete dennoch ständig, und der Regisseur hielt Sylv Po einen Zettel hin, während Mrs. Kamame gerade erklärte: «Wir trafen eine Frau, deren Mann sie nach vielen Jahren Ehe mit ihren sechs Kindern allein ließ. Er behauptete, eine Eingebung Gottes habe ihm eröffnet, daß seine Frau eine Ehebrecherin sei.
Daß von seinen sechs Kindern nicht ein einziges von ihm sei. Eine Woche später verkündete er eine weitere Eingebung. Diesmal hatte ihm Gott die neue Frau offenbart. Es stellte sich heraus, daß diese neue Frau eine junge Kirchgängerin war, auf die er schon ein Auge geworfen hatte, als sie zum ersten Mal die Kirche betreten hatte. Der Mann war einer der Ältesten in der Kirchengemeinde. Niemand kritisierte ihn. Und wie hätte sich die Frau Vaterschaftstests leisten können, um sich gegen seine absurden Behauptungen zu wehren?»
Sylv Po hatte sich inzwischen mit der Regie verständigt, daß man bei diesem einen Anrufer eine Ausnahme machen würde. Das rote Lämpchen leuchtete noch immer. Sylv Po lächelte. Wenn dieser Mensch bis jetzt nicht aufgegeben hatte, dann würde er das auch so bald nicht tun. Er stellte Mrs. Kamame eine letzte Frage: «Warum sollte jemand wie ich, mit einem guten Job und einem relativ bequemen Leben, sich für dieses Problem der Straßenkinder überhaupt interessieren?»
«Gerade Sie sollten sich interessieren», begann sie, «denn die Konsequenzen dieses Phänomens betreffen unsere ganze Gesellschaft, von der Sie natürlich ein Teil sind.»
«Das haben Sie sehr schön gesagt», sagte Sylv Po. Er mußte zum Schluß kommen. «Liebe Hörer», fuhr er fort, «von Australien bis Zimbabwe habe ich noch nie davon gehört, daß ein Kind gefragt wurde, ob es auf die Welt kommen will. Wenn man nicht bereit ist, ein Kind zu lieben und zu schätzen und dafür zu sorgen, warum sollte man es dann in die Welt setzen? Nun, liebe Hörer, ich bin sicher, daß…»
«Hallo! Hallo!» Wieder wurde Sylv Po von der drängenden Stimme unterbrochen.
Die Regie hatte offenbar die Leitung eine Sekunde zu früh freigeschaltet.
Sylv Po versuchte, das Beste daraus zu machen. «Sorry, Leute! Aber diese Pannen passieren selbst manchmal hier bei uns, Ihrem Radiosender Nummer eins, Harvest FM. Wenn die Regie…»
«Hallo! Hallo!»
«Hallo, sagen Sie uns bitte Ihren Namen und von wo Sie anrufen?»
«Das spielt keine Rolle», sagte der Anrufer.
«Oh, na gut. Aber es gibt etwas, das Sie uns und unseren Zuhören mitteilen möchten, nehme ich an.»
«Ja. Ich hab schon mal mit Ihnen da im Radio gesprochen. Haben Sie das gehört, was ich Ihnen letztes Mal gesagt hab? Ich glaub nicht. Weil heute sind Sie schon wieder mit dieser Frau da gekommen, die so viel Unsinn erzählt, und das immer wieder. Deswegen will ich noch mal mit Ihnen im Radio sprechen, damit mich alle Leute auch hören. Das Mädchen, das da hinter dem blauen Kiosk in Agbogbloshie umgekommen ist, sie heißt Fati. Sie ist gestorben, weil sie was Schlechtes getan hat. Etwas sehr Schlechtes. Sie hatte einen Ehemann in ihrer Heimatstadt, dann ist sie abgehauen und nach Accra gekommen. Sie sagte, er wäre zu alt. Er und zu alt? Als sie noch sein Geld ausgegeben hat, einfach so, da war er ihr nicht zu alt, was? Und jetzt hatte sie einen anderen. Deshalb ist sie gestorben. Wegen dem Tabu. Eine Frau, die einen Mann hat, warum muß die sich einen andern suchen? He? Das ist doch tabu.»
«Sie hatte einen Ehemann in ihrer Heimatstadt, kam nach Accra und nahm sich einen anderen Mann zum Freund?»
Keine Antwort.
«Sind Sie noch dran?»
Schweigen.
«Hallo!»
Plötzlich war die Stimme wieder zu hören: «Ich bin noch dran. Reden Sie. Ich höre.»
«Oh, okay», nahm Sylv Po den Faden wieder auf. «Ich fragte, ob Sie Fati kannten? Kannten Sie sie persönlich?»
«Das ist unwichtig.»
«Das können Sie ruhig mir überlassen, was ich wichtig finde und was nicht.»
«Was ham Sie gesagt?»
«Ach, vergessen Sie’s. Wo arbeiten Sie? Was machen Sie?»
«Das ist auch unwichtig.»
Sylv Po war jetzt mit seinem Latein am Ende. «In Ordnung! Ich werde Ihnen keine weiteren Fragen stellen. Sie erzählen uns einfach, was Sie für
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